Ein pensionierter Elektriker hat 40 Jahre lang 271 bisher unbekannte Picasso-Werke gehütet. Wert: 80 Millionen Euro. Der Elektriker sagt, Picasso habe ihm die Bilder geschenkt. Doch da gibt es Zweifel. Sicher jedoch scheint: Die Werke sind echt.
Am 5. Oktober klingelt die Polizei im Haus von Pierre Le Guennec in Mouans-Sartoux im südfranzösischen Departement Alpes-Maritimes. Guennec ist 71 Jahre alt und pensionierter Elektriker. Die Polizisten finden bei ihm 271 Werke, von denen niemand etwas wusste.
Die französische Zeitung „Libération“ berichtete am 29. November über den Fund. Sie löste damit ein Beben aus. Die Zeitung „Le Monde“ publizierte am 1. Dezember Fotos der Neuentdeckungen. Dabei handelt es sich nicht um gemalte Bilder, sondern um Zeichnungen, kubistische Collages, Gouaches, Studien und etwa 30 Lithographien. Die meisten Werke stammen laut „Le Monde“ aus den „fruchtbaren Jahren 1910-1920.“ Jean-Jacques Neuer, der Anwalt von Picassos Erben, sagt: „Es wird eine akademische Verwirrung geben“.
Festgenommen und freigelassen
Die Werke waren keineswegs im Haus des Elektrikers versteckt. Sie hingen auch nicht an den Mauern. Sie waren ganz einfach in Zeichenmappen gepackt. Claude Picasso, der Sohn des Meisters, erklärt „Le Monde“, die Zeichnungen und Lithographien seien „eher in gutem Zustand“. Claude Picasso vertritt die Interessen der sechs Picasso-Erben.
Jetzt befinden sich die Werke in einem Polizeilokal in Nanterre. Das Ehepaar Le Guennec wurde festgenommen, dann aber wieder freigelassen.
Weshalb erfuhr die Polizei von diesem Schatz im Hause des pensionierten Elektrikers? Am 23. September hat Claude Picasso bei der Staatsanwaltschaft der Stadt Grasse eine Klage wegen „Diebstahls und Hehlerei“ eingereicht. Er wusste, dass Pierre Le Guennec „einen kleinen Schatz“ besass.
“Meine Haare standen mir zu Berg“
Seit einem Jahr sandte ihm der Elektriker schlechte Fotos der von ihm gehüteten Picasso-Werke. Zuerst schickte Le Guennec 20 Fotos. Picassos Sohn sagte sich: „Schon wieder Fälschungen, pro Jahr erhalte ich 400 solcher Fotos“. Dann hat er ein weiteres Paket mit Fotos erhalten und noch eins und noch eins. „Meine Haare standen mir zu Berg, was ist das für eine Geschichte“, erklärt er „Le Monde“. Schliesslich verlangte er, die Originale sehen zu können. Am 9. September traf er diese „tapferen kleinen Leute“ an der Côte d’Azur. Und er war schockiert. Noch nie zuvor hat er so viele unbekannte Werke seines Vaters gesehen.
Wie sind diese Zeichnungen und Lithographien in die Hände des Elektrikers gelangt? Dazu wurden jetzt Voruntersuchungen eingeleitet. Pierre Le Guennec behauptet, Picasso habe ihm die Werke geschenkt. Le Guennec war Picassos Elektriker. Er kümmerte sich um die elektrischen Installationen und Alarmsysteme in Picassos Häusern in Südfrankreich, und zwar von 1970 an bis zum Tod des Malers im Jahre 1973. Der Maler war für seine Grosszügigkeit bekannt.
„Le Monde“ wollte ein Interview mit Le Guennec führen, doch dieser lehnte ab. Die Zeitung zitiert einen Polizeirapport. Darin sagt Le Guennec: „Ich habe die Werke nicht gestohlen. Jacqueline Picasso selbst hat sie mir gegeben“. Jacqueline war die letzte Frau des Malers. Sie kann nicht zu den Ereignissen befragt werden. Sie starb 1986. Le Guennecs Frau sagt im Polizeirapport: Der Maître und seine Frau haben „einen Abfallsack mit den Zeichnungen meinem Mann übergeben“.
Vierzig Jahre lang nicht darüber gesprochen
Claude Picasso glaubt das alles nicht. „Ich bin überzeugt, dass es sich um Diebstahl handelt“. Nie habe sein Vater so viele Werke einer einzigen Person geschenkt. Nie habe er verschiedene Varianten des gleichen Sujets jemandem gegeben. Le Guennec besass aber 14 Studien des Werkes „Die drei Grazien“. Zudem habe sein Vater geschenkte Werke immer signiert und Widmungen auf die Bilder geschrieben. Das sei hier nicht der Fall.
Das Elektriker-Paar steht plötzlich in den Schlagzeilen. Laut Angaben der Polizei hat es ein völlig normales Leben geführt, so wie es pensionierte Elektriker führen. „Le Monde“ fragt: Weshalb hat das Ehepaar während vierzig Jahren nicht über diese Geschenke Picassos gesprochen? Weshalb haben sie sich in den Rachen des Wolfs geworfen und ausgerechnet die Erben Picassos benachrichtigt? Da die Werke nicht authentifiziert sind, sind sie unverkäuflich. Wollte der Elektriker jetzt einfach von Claude Picasso die Echtheitszertifikate erhalten?
Trotz allem: Picassos Erben sind überglücklich. Sie wollen jetzt nur eins: Diesen Schatz erhalten, ihn studieren, ihn ausstellen, ihn einem Museum übergeben.
Wie sagt man in Frankreich: affaire à suivre.