"Wer war jene einzigartige Gestalt, die dem Christentum den Namen gab? Wie ungezählte andere Katholiken vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-65) bin ich aufgewachsen mit dem traditionellen Christusbild des Glaubensbekenntnisses, der hellenistischen Konzilien und byzantinischen Mosaiken: Jesus Christus als thronender »Gottessohn«, ein menschenfreundlicher »Heiland« und früher für die Jugend der »Christkönig>>...
Eine reale Gestalt der Geschichte
Richtig interessant wurde für mich die Christusfigur erst, als ich sie nach meinen sieben römischen Jahren aufgrund der modernen Bibelwissenschaft »von unten«, sozusagen aus der Perspektive seiner ersten Jünger kennenlernen durfte: als reale Gestalt der Geschichte. Das gründliche Studium der katholischen wie evangelischen exegetischen Literatur im Zusammenhang meiner Vorlesungen, Seminare und Publikationen war angetrieben durch meine ungeheure Wissbegierde nach diesem »unbekannten« irdischen Jesus....
Denn das Wesen des Christentums ist nun einmal nichts abstrakt Dogmatisches, ist keine allgemeine Lehre, sondern ist seit eh und je eine lebendige geschichtliche Gestalt: Jesus von Nazaret. Jahre hindurch habe ich mir so das einzigartige Profil des Nazareners aufgrund der überreichen biblischen Forschung der letzten zweihundert Jahre erarbeitet, habe alles in leidenschaftlicher Anteilnahme durchdacht, präzise Begründet und systematisch dargeboten. Ja, ich habe sogar über das ganze Markus-Evangelium vom ersten bis zum letzten Vers gepredigt, und anschließend auch über die Bergpredigt...
Das Zentrum meiner Theologie
Wer also ist ein Christ? Nicht derjenige, der nur »Herr, Herr« sagt und einem »Fundamentalismus «huldigt – sei dieser biblizistisch- protestantischer, autoritär-römisch-katholischer oder traditionalistisch-östlich- orthodoxer Prägung. Christ ist vielmehr, wer auf seinem ganz persönlichen Lebensweg (und jeder Mensch hat einen eigenen) sich bemüht, sich an diesem Jesus Christus praktisch zu orientieren. Mehr ist nicht verlangt...
Das 1974 veröffentlichte Buch »Christ sein« blieb für mich die Grundlage für die Exploration großer Arbeitsfelder, in die ich mich in den letzten vier Jahrzehnten mit aller theologischen Leidenschaft vorgearbeitet habe. Dass dieses umfangreiche Buch bis heute immer neue Auflagen erlebte und in 15 Sprachen übersetzt wurde, bedeutet eine überwältigende Bestätigung dieser Sicht von Christus und Christsein. Nach all dem Segeln in weite theologische Horizonte verspüre ich jetzt gegen Ende meiner theologischen Tätigkeit das Bedürfnis und die Freude, zum Zentrum meiner Theologie zurückzukehren, wo mein Herz schlägt, und es noch einmal ganz deutlich herauszuarbeiten. Ich halte mich bei diesem Jesus-Buch zumeist an die betreffenden Abschnitte meines Buches »Christ sein« (besonders im Teil C) und mache sie leichter lesbar durch zahlreiche Zwischentitel. Doch lasse ich alle nicht notwendigen exegetischen und theologischen Erklärungen ebenso weg wie alle Anmerkungen und Literaturangaben...
Der dogmatisierte Christus und der Jesus der Geschichte
Man wird mein Jesus-Buch mit den beiden Jesus-Büchern Joseph Ratzingers/Papst Benedikts XVI. vergleichen. In der Tat haben wir beide als Tübinger Dogmatik-Professoren in den 1960er-Jahren unser Jesus-Bild geformt. Und selbstverständlich will ich keinen unversöhnlichen Gegensatz zwischen unseren Jesus-Bildern konstruieren. Aber man sollte wissen: Schon in seiner Tübinger »Einführung ins Christentum« bot mein Kollege Ratzinger von der modernen Jesus-Forschung eine polemische Karikatur, während ich die Auseinandersetzung mit der historisch-kritischen Exegese entschieden aufnahm und so mein Buch »Christ sein« systematisch streng auf dem kritisch eruierten Befund des Neuen Testaments aufbaute. Er hat bei allem Lippenbekenntnis zur historisch-kritischen Methode deren für die Dogmatik unbequeme Ergebnisse ignoriert und mit Zitaten der Kirchenväter und aus der Liturgie geistreich überspielt. Sein Jesus-Bild »von oben« hat er entscheidend vom Dogma der hellenistischen Konzilien des 4./5. Jahrhunderts und von der Theologie Augustins und Bonaventuras inspirieren lassen. Er interpretiert – nicht ohne Zirkelschlüsse – die synoptischen Evangelien vom Johannes-Evangelium her und dieses wiederum vom Konzil von Nikaia (325) aus, das ich meinerseits am Neuen Testament messe. So präsentiert er durchgehend ein stark vergöttlichtes Jesusbild, während ich den geschichtlichen Jesus und seinen dramatischen Grundkonflikt mit der religiösen Hierarchie und der pharisäischen Frömmigkeit herausarbeite – mit allen Konsequenzen...
Fazit: Wer im Neuen Testament den dogmatisierten Christus sucht, lese Ratzinger, wer den Jesus der Geschichte und der urchristlichen Verkündigung, lese Küng. Dieser Jesus ist es, der Menschen damals wie heute betroffen macht, zur Stellungnahme herausfordert und nicht einfach distanziert zur Kenntnis genommen werden kann...
Die Basis für den Dialog mit Juden, Muslimen, Nichtgläubigen
Dass für Juden die Tora und für Muslime der Koran »der Weg, die Wahrheit und das Leben« ist, respektiere und verstehe ich, aber für mich als Christen ist es dieser Jesus Christus. Mein ökumenisches Interesse in diesem Buch hier war und ist es, auch für den interreligiösen Dialog das allen Christen Gemeinsame, Jesus als den Christus selber, herauszuarbeiten. Von dieser solide begründeten christlichen Basis aus, die mir als Christ geistige Identität vermittelt, konnte und kann ich es wagen, mich in die geistigen Abenteuer des Dialogs auch mit Juden und Muslimen, mit Gläubigen und Nichtgläubigen zu stürzen..."
Hans Küng: Jesus, Piper, München 2012, 304 Seiten (c) 2012 Piper Verlag GmbH, München
Die Zwischentitel im hier gekürzt publizierten Vorwort von Hans Küng hat die Journal21-Redaktion gesetzt