Die Frauenaktivistin Mahdieh Golroo hat eine Protestaktion vor dem iranischen Parlament mit organisiert, die sich gegen Säureattacken gegen Frauen richtete. Deshalb wurde sie verhaftet und nach mehreren Monaten auf Kaution freigelassen. In ihrem Bericht für das Iran Journal berichtet Golroo über ihre Einzelhaft und einen Gerichtsprozess, der ihr Leben veränderte.
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Im Oktober 2014 machten im Iran Meldungen über Säureattacken gegen Frauen, deren Kleidung nicht den Normen der Islamischen Republik entsprach, die Runde. In der Islamischen Republik haben wir keine freie Presse. Deshalb verbreitete sich die Nachricht über die sozialen Netzwerke. Der Freitagsprediger der Stadt Isfahan hatte die „Freizügigkeit“ von Frauen kritisiert, die nicht den vorgeschriebenen Hijab tragen, und zur Härte gegen Frauen aufgerufen, die sich nicht streng an die Kleidervorschriften halten. Daraufhin hatte sich der fanatische Mob auf Motorrädern ans Werk gemacht und mit Säure die Gesichter von mehreren jungen Frauen zerstört. Andere Frauen erhielten Drohbotschaften: Hältst Du Dich nicht an die islamische Kleiderordnung, bist du die Nächste! Bei einigen Attacken wurden Flüssigkeiten wie Bleichmittel eingesetzt. Dabei spürt das Opfer einen brennenden Schmerz und wird von Panikattacken befallen.
Ich war im Büro, hatte aber keine Kraft zu arbeiten. Die ganze Zeit hatte ich die Gesichter der Opfer vor den Augen. Ich checkte meine E-Mails. Frauenaktivistinnen diskutierten über die Ereignisse. Ich war sehr traurig, aber auch sehr wütend. Mir war bewusst, dass wir etwas dagegen unternehmen sollten, sonst würden sie uns aus der Gesellschaft verbannen, was sie ja in den letzten Jahrzehnten versucht hatten: aus uns artige Hausfrauen und Mütter zu machen. Einige waren dagegen, dass ich mich engagiere, denn ich war erst vor kurzem aus jahrelanger Haft entlassen worden. Sie machten sich Sorgen um mich. Wir beschlossen, uns am nächsten Tag zu treffen, um das Thema zu besprechen.
Auf dem Nachhauseweg zitterte ich beim Geräusch jedes vorbeifahrenden Motorrads vor Angst am ganzen Körper. Ich sagte mir dauernd: Diese Einschüchterung ist genau das, was sie erreichen wollen, ich darf keine Angst haben! In der U-Bahn sprachen einige Frauen über die Säureattacken. Die Unruhe in ihren Stimmen war nicht zu überhören. Zuhause angekommen, brach ich in Tränen aus – ob aus Angst, Hilflosigkeit, vor Wut oder all diesen Gründen, wusste ich nicht.
Die ganze Nacht träumte ich von den Angreifern. Mehr als zehn Mal fuhren sie mit ihren Motorrädern an mir vorbei und sprühten lachend Säure in mein Gesicht. Ich schreckte auf, konnte nicht mehr schlafen. Ich schrieb meinen Traum auf und postete ihn auf Facebook. Am Ende fügte ich hinzu: Wir müssen etwas dagegen tun!
Der nächste Tag verging mit den gleichen Ängsten und Schrecken. Seit einigen Monaten hatten wir mit einer Gruppe von Feministinnen das „Bürgerzentrum der Frauen“ gegründet und versucht, es als Nichtregierungsorganisation einzutragen. Feminist*innen erhalten im Iran jedoch keine Genehmigungen für ihre Aktivitäten.
Bei unserem Treffen waren sich alle einig: Wir müssen etwas tun. Wir beschlossen, am nächsten Tag eine Versammlung vor dem Parlamentsgebäude in Teheran zu organisieren und die Abgeordneten darum zu bitten, Gesetze gegen Gewalt gegen Frauen zu verabschieden. Ich tat auf Facebook kund, dass wir zu diesem Unrecht nicht schweigen und uns vor dem Parlament versammeln würden.
Die Demonstration
Am nächsten Tag trafen wir uns in den Morgenstunden in den Strassen rund um das Parlament und schrieben Plakate. Als jahrelange Studentenaktivistin kannte ich mich mehr als die anderen mit der Beschriftung von Plakaten aus, sass auf dem Boden und schrieb Parolen auf Pappen.
Kurz darauf standen wir – sieben, acht Mitglieder unserer NGO – mit den Plakaten vor dem Parlament. Es kamen immer mehr Sicherheitsbeamte. Aus den umliegenden Strassen schlossen sich uns bekannte Gesichter an. Die Anzahl der Protestierenden nahm minütlich zu. Ich hatte einen Kloss im Hals. Jahrelang hatte ich an verschiedenen Protestaktionen teilgenommen und mich gegen tausendfaches Unrecht eingesetzt. Gegen diese nackte Gewalt zu schweigen, war für mich unvorstellbar.
Die Sicherheitsbeamten in Zivil machten fleissig Fotos und Videos. Die Polizei nahm ein paar Mal Anlauf Richtung Publikum. Inzwischen schlossen sich uns Passanten an. Ältere Männer und Frauen stellten sich zwischen uns und die Sicherheitsbeamten.
Nach ein paar Stunden machten wir uns auf den Heimweg. Am Abend wurden in den sozialen Netzwerken Nachrichten über unsere Versammlung verbreitet. Auch persischsprachige Medien im Ausland berichteten darüber.
Auf den meisten Bildern und in vielen Filmen war ich zu sehen, während ich Parolen rief. Das bereitete Vahid, meinem Mann, und meinen Freundinnen und Freunden Sorge. Ich versuchte, sie zu beruhigen: „Die Versammlung verlief ruhig, ausserdem bin ich gerade aus dem Gefängnis entlassen worden. Sie werden mich erst mal in Ruhe lassen. Das war doch keine politische Versammlung. Wir haben gegen Gewalt protestiert. Wie kann das ein Verbrechen sein?!“
Unsere Versammlung hatte an einem Donnerstag stattgefunden. Freitag ist Wochenende im Iran. Zusammen mit Vahid ging ich spazieren. Seine Augen waren voller Sorge. Ich habe ihm versichert, dass sie mich schon längst abgeholt hätten, falls es zu einer Festnahme kommen sollte. Ich war froh, etwas getan zu haben. Tatenlosigkeit belastet die Menschen manchmal mehr. Ich hatte mir vorgenommen, bei unserer Sitzung, die am Samstag stattfinden sollte, vorzuschlagen, mit den Protesten weiterzumachen.
Die Verhaftung
Am Samstagmorgen las ich Nachrichten auf Facebook und in den Nachrichtenagenturen, während ich meinen Kaffee trank. Ich war spät dran. Deswegen machte ich mir schnell ein Butterbrot, um es in der U-Bahn zu essen. Ich weckte Vahid auf, küsste ihn, setzte mein Kopftuch auf und ging los.
Es war frisch. Nach ein paar Schritten hörte ich ein Motorrad, dann eine männliche Stimme: „Frau Golroo?“. Ich drehte mich um. Ein schwarz gekleideter junger Mann mit schwarzem Bart sah mir in die Augen. Ich hörte mein Herz pochen. Er war vom Geheimdienst der Revolutionsgarde. Meine Augen sahen unscharf, aber ich war erfahren genug, um mich zusammenzunehmen. „Als ich das Motorrad hörte, dachte ich, es wäre eine Säureattacke“, sagte ich mit einem künstlichen Lächeln. „Auch darüber werden wir uns unterhalten“, erwiderte er. „Erst begleiten wir Sie zu einer Hausdurchsuchung nach Hause.“ „Dann haben Sie bestimmt einen Durchsuchungs- und einen Haftbefehl. Darf ich sie sehen?“, fragte ich.
Er gab einem schwarzen Auto, das ein Stück weiter geparkt war, ein Zeichen. Es fuhr los. In dem schwarzen Peugeot sassen vier schwarz gekleidete Männer. Einer von ihnen stieg aus und zeigte mir Papiere, sowohl einen Haft- als auch einen Durchsuchungsbefehl.
In meiner Wohnung leerten sie alle Schubladen und Schränke, sogar die Tiefkühltruhe. Meine Fotos hingen an der Wand und am Kühlschrank. „Packen Sie diese Bilder weg“, befahl einer der Männer. „Hier ist meine Wohnung. Ich hänge Fotos auf, wie es mir gefällt“, erwiderte ich. Es waren Bilder von mir ohne Kopftuch, das hatte sie wütend gemacht. Als ich mich weigerte, die Bilder anzurühren, nahm einer der Beamten sie von der Wand und stellte sie verkehrt herum auf den Boden.
Sie durchsuchten unsere Taschen und konfiszierten auch das Handy und den Laptop von Vahid, seine Arbeitsmittel. Mit einem Sack voller CDs, USB-Sticks, Notizbüchern und Büchern schlossen sie die Hausdurchsuchung ab. Vahid musste uns begleiten, damit er nicht die Medien informieren konnte, bevor ich das Gefängnis betrat.
Der erste Halt war mein Arbeitsbüro. Einige Beamte begleiteten mich dorthin, fanden aber nichts für sie Brauchbares. Als wir das Büro verliessen, sah ich Vahid in dem schwarzen Peugeot auf der anderen Strassenseite sitzen. Seine Augen waren voller Sorge. Sie liessen ihn aussteigen. Während ich in einen anderen schwarzen Peugeot einstieg, sah ich ihn an einer Ecke stehen.
„Setzen Sie diese Augenbinde auf und halten Sie Ihren Kopf nach unten.“ Ich sagte: „Das ist nicht meine erste Festnahme. Ich kenne den Weg zum Evin-Gefängnis bereits.“ „Setz die Augenbinde auf, hab ich gesagt!“, schrie der Mann wütend. Ich setzte sie auf. Der Beamte neben mir drückte meinen Kopf nach unten. „Du machst dir Sorgen um Säureattacken! Du hast Angst davor! Ich bringe dich zu einem sicheren Ort ohne Säureattacken“, sagte ein anderer.
Einzelhaft und Verhöre
Im Gefängnis nahmen sie mir alles weg und gaben mir Gefängniskleidung: eine Bluse, eine Hose, ein Kopftuch und einen Tschador. Dann wurde ich in eine Zelle gebracht. Eine Wärterin betrat meine Zelle und gab mir Nagellackentferner und Wattepads: „Entferne deinen Nagellack, bevor du beim Untersuchungsrichter die Anklagepunkte vorgelesen bekommst!“
Ich war erneut in Einzelhaft. Ich kannte das und wusste bereits, wie lange die bevorstehenden Tage werden würden; Tage, die kein Ende haben, viel zu lange Stunden, Verhöre, Verhöre und wieder Verhöre. Und du wirst dich verteidigen gegen den Vorwurf eines Verbrechen, das du nicht begangen hast.
Nach ein paar Stunden fingen die Verhöre an. Im Tschador sitze ich vor einer Wand in einem schwach beleuchteten Raum, vor mir auf dem Tisch ein Kugelschreiber und ein Stück Papier.
„Wer hat die Versammlung befohlen? Aus welchem Land bekommst du die Befehle? Wir wissen bereits alles. Wir wollen nur, dass du gestehst. Die westlichen Länder haben die Frauen mit Säure attackiert, um Menschen wie dich zu instrumentalisieren! Ihr Frauen seid so dumm und gefühlsgesteuert. Ihr lasst euch leicht von ausländischen Medien ausnutzen! Wie wurde die Versammlung finanziert?! Du hast dich dem Koran widersetzt. Dein Urteil wird sehr schwer sein! Leg ein Geständnis ab, das würde das Urteil vielleicht leichter machen! Ihr wollt, dass die Iranerinnen wie die westlichen Frauen werden! Wir sind Muslime und werden den Islam mit allen Mitteln verteidigen! Du hast auf Facebook die Menschen zur Teilnahme an einer Versammlung aufgerufen, das ist ein Komplott zur Störung der öffentlichen Ordnung! Deine Beiträge sind Schwarzmalerei und das ist Propaganda gegen das Regime! Wenn du Fernsehgeständnisse ablegst und zugibst, in die Irre geführt worden zu sein, sorgen wir für ein leichteres Urteil.“
Es vergingen Tage und Wochen. Ein Verhörer löste den anderen ab. Sie konnten sich abwechseln und ausruhen, ich aber nicht. Ich hatte keine Antwort auf solche Fragen. Ich hatte weder Befehle erhalten noch Geld! Welche Antworten konnte ich auf die krankhaften Fantasien der Verhörer geben? Stundenlang versuchte ich, es ihnen zu erklären. Sie sagten aber nur das, wovon sie überzeugt waren.
Die Einzelhaft frass mein Gehirn auf. Den ganzen Tag dachte ich an die Fragen der Verhörer. Es war bereits ein Monat vergangen. Ich durfte weder Besuch bekommen noch jemanden anrufen. In meiner sechs Quadratmeter grossen Zelle lief ich auf und ab und dachte, dass mich mein Gewissen umgebracht hätte, wenn ich an der Versammlung nicht teilgenommen hätte. Wie kann man gegen solche Gewalt nicht protestieren? Wie hätte ich mich sonst Menschenrechtsaktivistin und Feministin nennen können? So beruhigte ich mich und malte mir die Zeit nach den Verhören aus.
Erlaubnis zum Telefonieren
Nach vierzig Tagen durfte ich endlich telefonieren.
„Wen wirst du anrufen?“
„Meinen Ehemann.“
„Du weisst gar nicht, was ein Ehemann ist! Ihr Feministinnen habt keine Ahnung, was Muttersein bedeutet oder wie ein Ehemann zu pflegen ist. Wäre dein Ehemann ein richtiger Mann gewesen, hätte er sich von dir schon zehn Mal scheiden lassen, statt jeden Tag zu versuchen, dich zu besuchen oder sich um deinen Fall zu kümmern. Als ich ihn vor ein paar Tagen bei der Staatsanwaltschaft traf, habe ich ihm gesagt: Sie ist nicht die richtige Frau für dich, kümmere dich um dein eigenes Leben!“
Meine Augen waren verbunden und ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Zeitgleich wollte ich nach vierzig Tagen unbedingt die Stimme von Vahid hören und wusste, dass der Verhörer die Macht hatte, mir diese Gelegenheit zu nehmen. Das wollte ich nicht riskieren.
Der Winter war gekommen, es gab beissende Kälte. Das Telefon befand sich im Hof, der schneebedeckt war. Auf meinem Weg dorthin, während ich Schnee und Eis betrachtete, fiel mir auf, dass ich zum vierten Mal das Evin-Gefängnis im Winter erlebte.
Bereits nach dem ersten Klingeln hob Vahid ab. „Ich wusste, dass du anrufst“, sagte er. „Heute waren Mutter und ich beim Richter. Er wollte ein Telefonat genehmigen.“ „Ist für meinen Fall ein Richter ernannt worden?“. „Ja, Schatz! Dein Fall wird in der fünfzehnten Kammer behandelt!“. „Bei Richter Salavati?”. „Ja! Alle reden von dir, Mahdieh. Internationale Organisationen haben Erklärungen veröffentlicht. Es gibt eine Kampagne für deine Freilassung. Es werden Unterschriften gesammelt.“
Richter Salavati ist der strengste Richter des Revolutionsgerichts. Normalerweise werden ihm die Fälle zugewiesen, die mit einer Hinrichtung enden sollen. Er war derjenige, der den Journalisten Ruhollah Zam zum Tode verurteilt hat. Ich nahm an, sie hatten ihn mit meinem Fall beauftragt, um mir Angst einzujagen, um mich zu entmutigen.
Zu diesem Zeitpunkt sass ich bereits zwei Monate in Einzelhaft. Ab dem vierzigsten Tag konnte ich zwei Mal telefonieren. Jetzt durfte ich sogar Besuch bekommen. Ich sagte meinem Verhörer, dass ich nicht mehr in Einzelhaft sein sollte, weil die Untersuchungen abgeschlossen seien und der Richter über meinen Fall urteilen würde. Er war dagegen und liess mich weiterhin in Einzelhaft bleiben.
Im vierten Monat fiel mir die Einzelhaft leichter. Die Einzelhaft hat verschiedene Phasen: Im zweiten Monat ist es sehr schwer, als ob die Wände deine Seele und deinen Körper auffressen würden. Aber nach drei Monaten ist es so, als ob du dich daran gewöhnst: an das Alleinsein, an deine Selbstgespräche. Wenn du aus dem Gefängnis entlassen oder in eine Sammelzelle verlegt wirst, kannst du die Menschen kaum ertragen!
Seit der Gründung der Islamischen Republik kämpfen iranische Frauen gegen ihre Diskriminierung – hier die Demonstration gegen den Schleierzwang am 8. März 1979 in Teheran:
Das Gerichtsverfahren
An einem Morgen im vierten Monat meiner Einzelhaft, als ich in meiner Zelle auf dem Boden lag und die Decke anstarrte, öffnete ein Wärter den Türschlitz und sagte: „Mach dich fertig!“ Ich wusste nicht, was mich erwartet: ein Verhör, ein Besuch, ein Telefonat oder etwas anders.
Ein Wärter zog mich mit verbundenen Augen hinter sich her auf den Gefängnishof. Sie legten mir Handschellen an und liessen mich in einen schwarzen Peugeot einsteigen. Aus einem Winkel, den die Augenbinde frei liess, konnte ich die Umgebung sehen: Wir verliessen das Gefängnis.
Das Auto fuhr in den Hof des Revolutionsgerichts ein. Wir gingen ins Erdgeschoss. Ich suchte nach bekannten Gesichtern, die man hier normalerweise trifft. Schnell brachten sie mich zum Aufzug. „Zieh deinen Tschador nach vorne“, sagte der mich begleitende Beamte. „Mit Handschellen kann ich ihn nicht richtig halten!“, antwortete ich. Meine Antwort machte ihn wütend. Er zog grob an meinem Tschador. Meine langen Haare wurden mitgezogen, das tat weh. „Fass mich nicht an, du Penner!“, reagierte ich wütend, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, das Gericht ruhig zu betreten.
In Begleitung von drei Beamten wartete ich vor der Tür des Gerichtssaals. Meine Mutter und mein Ehemann waren auch dort. Ich machte mich auf, um zu ihnen zu gehen, doch die Beamten hinderten mich daran.
Ich betrat den Saal. Salavatis Gesicht war genau so, wie ich es in Videos gesehen hatte. Seine Stirn war in der Mitte dunkler. Das ist die Stelle, die beim Niederknien während des Betens auf den Gebetsstein gelegt wird. Je dunkler die Stelle, desto häufiger betet und desto frömmer ist der Mensch, propagieren die Ultrakonservativen. Der Richter hatte einen ungepflegten Bart und ein teuflisches Lächeln.
„Mahdieh Golroo?“
„Ja.“
„Du bist sehr jung. Ich dachte, du wärst älter. Sie haben um dich ganz schön viel Lärm gemacht. Die Ausländer unterstützen wohl ihre Agenten. Du hast bestimmt grosse Angst. Mich kennst du doch, oder?“
„Ja, ich kenne Sie. Ich habe aber keine Angst. Warum sollte ich? Sie sind ein Richter wie jeder andere Richter auch. Und mein Fall ist doch eindeutig, ich habe nichts getan, weshalb ich Angst haben sollte. Ich gehe davon aus, dass Sie meinen Fall vollständig studiert haben.“
Salavati ist dafür bekannt, dass er die Fälle, die ihm zugewiesen werden, gar nicht studiert. Er urteilt nach den Empfehlungen der Verhörer. Deswegen hatte ich gezielt danach gefragt. Daraufhin sprach er mit dem Beamten, der neben mir stand:
„Ist von ihren Angehörigen jemand hier?“
„Ja, ihre Mutter und ihr Ehemann.“
„Sie sollen hereinkommen.“
Meine Mutter und Vahid betraten den Gerichtsraum. Salavati fing an, sie zu erniedrigen: „Was ist das für eine Erziehung?!“, sagt er zu meiner Mutter. Und zu meinem Mann: „Was hast du gedacht, was für eine Frau du geheiratet hast?“. „Hier stehe ich vor Gericht und nicht meine Familie“, unterbrach ich ihn. Er lachte laut und sprach mit Vahid:
„Seit wann seid ihr verheiratet?“
„Seit acht Jahren.“
„Und wie viele Kinder habt ihr?“
„Keins.“
„Und an wem von euch liegt das?“
„Verehrter Herr“, begann meine Mutter zu reden, „diese jungen Leute hatten von Anbeginn ihrer Eheschliessung mit Gefängnis und solchen Sachen zu tun und sind gar nicht dazu gekommen, sich über das Elternwerden Gedanken zu machen.“ Daraufhin schaute Richter Salavati mich und meine dicke Akte auf seinem Tisch an. Er legte seine Hand auf die Akte und sagte zu mir: „Für solche Sachen hast du wohl genug Zeit! Warum habt ihr so viele Probleme damit, Kinder zu gebären und euren Ehemann zu versorgen? Warum kommt ihr nicht wie gute Frauen euren Pflichten nach?“. „Gerade unseren Pflichten wollen wir nachgehen“, antwortete ich.
In der Sitzung hatten wir nur geredet. Enttäuscht kehrte ich in meine Zelle zurück. Nach ein paar Tagen kam ich gegen eine sehr hohe Kaution, die ein guter Freund von uns für mich hinterlassen hatte, frei – nach etwa fünf Monaten Haft.
Mein Gerichtsverfahren wurde nie abgeschlossen. Das hat mein ganzes Leben beeinflusst. Nach der Protestaktion vor dem Parlament nahm mich der Geheimdienst der Revolutionsgarden unter ständige Beobachtung und setzte mich permanent unter Druck. Ich war gezwungen, den Iran zu verlassen.
Bei den Säureattacken im Herbst 2014 wurden mindestens fünfzehn Mädchen und junge Frauen angegriffen und verletzt, ein Opfer kam ums Leben. Das waren nicht die ersten Säureattacken im Iran. Besorgniserregend war jedoch, dass die Attacken diesmal systematisch und staatlich gesteuert waren. Die Täter wurden nicht gefasst. Und der Imam, der die Attacken ins Rollen gebracht hatte, predigt nach wie vor jeden Freitag.
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Übersetzt aus dem Persischen von Iman Aslani.
ٌZur Autorin: Mahdieh Golroo, geb. 1985, wurde wegen ihres Engagements für die Rechte der Studierenden vom Studium ausgeschlossen. 2009 wurde sie wegen angeblicher „Gefährdung der nationalen Interessen“ verhaftet und zu zwei Jahren und vier Monaten Haft verurteilt. Sie kam 2011 frei und führte ihre sozialen und politischen Aktivitäten weiter.
Mit freundlicher Genehmigung Iran Journal