
Serge Schmemann war langjähriger Moskau-Korrespondent der «New York Times», er ist heute Mitglied des Redaktionsausschusses dieser Zeitung. Seine Vorfahren waren aus Russland in Amerika eingewandert. Dieser Tage veröffentlichte die «New York Times» ein Interview Schmemanns mit dem Keml-nahen Politologen und aussenpolitischen Putin-Berater Sergei Karaganow, mit dem er als Journalist seit bald 20 Jahren in Kontakt steht.
Der 69-jährige Karaganow ist ein entschiedener Befürworter von Putins Ukraine-Krieg. Seine Antworten geben aufschlussreiche Einblicke in die Denk- oder Argumentationsweise im Umkreis der Putin-ergebenen Sprachrohre. Ob diese russischen Propagandisten selber alles glauben, was sie gegenwärtig verkünden, bleibt eine offene Frage.
Je weiter vom dekadenten Westen entfernt, desto besser
Karaganow behauptet im Interview mit Schmemann, der Ukraine-Krieg sei von den regierenden westlichen Eliten bewusst geschürt worden, um Russland als Feindbild aufzublähen und damit die eigene Bevölkerung vom politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Niedergang ihrer Länder abzulenken. Angesichts der wachsenden Bedrohungen aus dem Westen habe man sich in Moskau wahrscheinlich für einen Präventivkrieg entschieden, um so die «Bedingungen des Konflikts bestimmen zu können». Die ukrainische Bevölkerung werde dabei vom Westen «als Kanonenfutter benutzt, um so den Dominanz-Niedergang ihrer Eliten zu verhindern».
Je weiter sich Russland vom dekadenten Westen entferne, desto besser sei das für die Zukunft des Landes, behauptet Karaganow. Allerdings räumt er ein, dass nur die Geschichte klären könne, ob die Entscheidung Russlands zur offenen Konfrontation richtig gewesen sei. Er bedauert auch, dass inzwischen zehntausende von IT-Spezialisten das Land verlassen haben. Er hoffe aber, dass ein Teil dieser Leute wieder nach Russland zurückkehren würden. Er mache sich auch einige Sorgen darüber, dass die jetzige Konfrontation den Raum der Meinungsfreiheit in Russland einschränke, aber dieser Raum sei immer noch viel weiter als in manchen andern Ländern. In Russland gebe es nicht den Kult der Cancel-Culture und der Political Correctness.
Russland als «Zivilisation der Zivilisationen»
Im Weiteren argumentiert der Kreml-Berater, dass die Ukraine nur ein kleiner, wenn auch wichtiger Schauplatz im globalen Prozess der Ablösung von der Ordnung des «liberalen Imperialismus» sei, den die USA der Welt aufgenötigt hätten. Notwendig sei künftig «eine viel freiere, multipolare Ordnung von Zivilisationen und Kulturen». Ein Zentrum dieser neune Ordnung sei die eurasische Region, deren grosse Zivilisationen jahrhundertelang unterdrückt worden seien. Russland werde in diesem System seine «natürliche Rolle als Zivilisation der Zivilisationen» spielen.
«Wir sind die stolzen Erben einer grossen Kultur, die von Puschkin, Tolstoi und Gogol geschaffen wurde.» Weiter fügt Karaganow hinzu: «Wir sind die Erben von unschlagbaren Kriegern wie Suworow und den Marschällen Schukow und Rokossowski.» Er schliesst das Interview mit den Worten: «Diese Welt erscheint erst am Horizont. Aber ich arbeite dafür, sie näher zu bringen.»
Das ganze Interview des Kreml-Beraters ist in der «New York Times» online mehr als 1100 Mal kommentiert worden. Die Mehrheit der Kommentatoren und Kommentatorinnen äussert sich kopfschüttelnd und kritisch zu den abstrusen und teilweise widersprüchlichen Behauptungen des Moskauer Politologen. Einige Leser äussern aber auch Verständnis für diese radikal konträre Sicht auf den blutigen Ukraine-Krieg. Andere machen geltend, dass ein hochgestellter Kreml-Berater ja kaum eine andere Möglichkeit habe, als in seinen öffentlichen Äusserungen loyal nach der Putinschen Sprachregelung zu ticken, ohne die eigene Stellung und die Sicherheit seiner Familie zu gefährden.
Hier der Link zum vollen Interview-Text in der «New York Times»: