Estland gilt als ökonomischer Musterschüler, und höchstens die "New York Times" oder Amnesty International registrieren den rigorosen Sprachzwang. Zwar schickt der Europarat, in dem auch die Schweiz vertreten ist, jedes Jahr einen Beauftragten nach Estland und Lettland, der dort den Umgang mit der grossen russischen Minorität monieren soll. Aber diese Auftritte werden entweder ignoriert oder der Mahner wird als Söldner Russlands diffamiert. Die seit 2004 zur EU und zur NATO gehörenden Kleinstaaten wissen natürlich, welche Organisationen als Papiertiger einzustufen sind. Bei einem Vertreter aus Brüssel oder des zur EU gehörenden Europäischen Parlamentes reagiert man vorsichtiger.
In Tallinn erlebte ich vor einiger Zeit, wie der von Pro Helvetia finanzierte Auftritt einer Schweizer Delegation, die den Segen der Viersprachigkeit demonstrieren sollte, mit einem Fiasko endete. Der damalige Präsident des estnischen Schriftstellerverbandes erklärte, man habe die Esten früher gezwungen, Russisch zu lernen. Jetzt sei Estland unabhängig und erkläre Estnisch zur alleinigen Landessprache. 2009 erschien nicht nur der kritisierende Vertreter des Europarates in Tallinn sondern auch der damals als Präsident des Europäischen Parlamentes amtierende Hans-Gert Pöttering. Dieser forderte die Russisch sprechende Minderheit auf, Estnisch zu lernen, weil sie nur so gleichberechtigten Zugang zu Berufen und Ämtern haben werde. Die Bemerkung des deutschen CDU-Politikers wurde in allen Medien gross aufgemacht.
Man kann bei der Sprachtoleranz unterschiedliche Meinungen haben. Der Hinweis auf berufliche Chancen ist aber eindeutig falsch. Der für Estnisch zuständige Amtsleiter in Tallinn bestätigte in einem Interview, dass 70 Prozent der Lehrer in russischsprachigen Schulen nicht genügend Estnisch können. Wenn die Regierung an der Forderung festhält, dass ab nächstem Schuljahr mindestens 60 Prozent des Unterrichts in russischen Schulen auf Estnisch erfolgen soll, so führt dies zwangsläufig zu einer Verschlechterung der Ausbildung.
Prinzipiell unterstützen alle grossen Parteien in Estland die Forderung nach einer einzigen Staatssprache. Die Frage ist nur, wie schnell das 2007 gestartete Sprachprogramm durchgezogen werden soll. An der technischen Universität von Tallinn unterrichteten 2007 estnische Professoren auf Russisch, um die in der Wirtschaft dringend benötigten Fachleute auszubilden. Die Regierung drohte der Universität mit einer Kürzung der finanziellen Mittel, wenn sie die Aktion nicht einstelle. In den unteren Schulen scheiterte der Übergang zu Estnisch bisher weitgehend an der sprachlichen Fähigkeit der Lehrer mit russischer Muttersprache. Sie müssen die teuren Estnischkurse selber bezahlen. Und die älteren Semester kommen mit der zur finnischen Sprachgruppe gehörenden Fremdsprache trotz allen Anstrengungen nicht zu recht.
Am Rande Europas
Interessant ist das Schweigen in Europa. Ich kann mich nicht erinnern, über das Thema in einer europäischen Zeitung gelesen zu haben. Nicht einmal die Medien des sprachverwandten Finnland greifen die negativen Folgen des estnischen Sprachzwanges auf. Für Westeuropa scheinen die Probleme östlicher Randstaaten nicht zu existieren, falls es nicht gerade um Estland als ökonomischen Musterschüler oder die finanzielle Pleite in Lettland geht. Dagegen hat die "New York Times" das Thema aufgegriffen mit einer Reportage über das renommierte russische Pae Gymnasium in Tallinn. In diesem Beitrag schildern Lehrer den rigorosen Druck für eine sprachliche Umstellung, die sie als politisch motivierten Racheakt empfinden.
Bewusste Europäer müssten nachdenklich reagieren. Als 2007 die von der Regierung angeordnete Versetzung des russischen Kriegsdenkmals mit dem Bronze Soldaten für Unmut der russischen Minderheit und einen Krawall in Tallinn sorgte, analysierte einzig die "New York Times" den innenpolitischen Teil des Konflikts. Nur in der europäischen Tochter der amerikanischen Zeitung, der "International Herald Tribune", konnte man lesen, dass der Coup ein Mittel des Regierungschefs war, um die Unterstützung der Konservativen zu gewinnen und seinen Wahlsieg sicherzustellen. Das nationale Thema torpedierte nämlich die Zentrumspartei, der die Umfragen dank ihrer Popularität bei estnischen und russischen Wählern den Sieg prophezeit hatten.