Nach dem Scheitern der Altersvorsorge-Vorlage in der Volksabstimmung vom 24. September 2017 hat der Bundesrat Ende Juni 2018 vorgeschlagen, das ordentliche Rentenalter der Frauen von 64 auf 65 Altersjahre und den Normalsatz der Mehrwertsteuer um 1,5 Prozentpunkte zu erhöhen.
Die eidgenössischen Räte haben Ende September 2018 ein Paket verabschiedet, das
Dr. rer. pol. Armin Jans war 2002 bis 2014 Professor für Volkswirtschaftslehre an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Winterthur und 1999 bis 2011 Mitglied des Bankrats der Schweizerischen Nationalbank. Er ist Mitherausgeber des Buchs «Krisenfeste Schweizer Banken?» (NZZ-Libro 2018).
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neben einer Neuauflage der Unternehmenssteuerreform ab 2020 zusätzliche Einnahmen für die AHV von jährlich mindestens 2 Milliarden Franken vorsieht. Die Volksabstimmung wird voraussichtlich im Mai 2019 stattfinden.
Alle diese Massnahmen würden die AHV primär mit zusätzlichen Einnahmen stabilisieren, und das nur bis zum Jahr 2030. Hier werde ich aufgezeigen, welchen Beitrag eine Anhebung des Referenzalters auf 66 und auf 67 Jahre für die Sicherung der AHV leisten kann. Schliesslich mache ich einen Vorschlag, der die AHV bis 2034 finanziell stabilisiert und dazu noch konsensfähig sein dürfte.
Wie es um die AHV bestellt ist
Gegenwärtig ist die AHV der wichtigste Pfeiler der Altersvorsorge. 2016 richtete sie Altersrenten von 42,3 Mrd. Franken aus, die Pensionskassen solche von rund 25 Mrd. Franken sowie 6,8 Mrd. Franken in Form von Kapitalleistungen bei der Pensionierung. (1*) Ohne neue Massnahmen sieht die zukünftige finanzielle Entwicklung der AHV düster aus. 2021-2030 übersteigen die Ausgaben die laufenden Einnahmen um 43 Mrd. Franken, so dass der AHV-Fonds bis Ende 2030 von 45 auf 3,5 Mrd. Franken absinkt (siehe Tabelle 1). Gemäss AHV-Gesetz muss er jedoch einen Stand aufweisen, der einer Jahresausgabe entspricht. Aus diesem Grunde sind bis 2030 nicht nur 43, sondern 53 Mrd. Franken zur Deckung der Finanzlücke erforderlich.
Die finanziellen Prognosen für die AHV basieren auf einer Reihe von Annahmen über die Entwicklung der Bevölkerung, der Wirtschaftslage und der Kapitalrenditen. In der Vergangenheit erwiesen sich diese als zu pessimistisch; vor allem die Einwanderung und damit die Einnahmen wurden unterschätzt. Selbst für den Fall, dass die aktuellen Prognosen wiederum zu pessimistisch wären, darf angesichts des Umfangs der sich abzeichnenden Defizite nicht davon ausgegangen werden, dass sich die Finanzlücke ohne Gegenmassnahmen quasi von selbst schliessen wird.
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Sanierungsoptionen
Wie einleitend bemerkt, hat der Bundesrat Ende Juni 2018 die Vernehmlassung für eine Revision der AHV eröffnet. Im Wesentlichen schlägt er vor, das ordentliche Rentenalter (= Referenzalter) der Frauen von 64 auf 65 Altersjahre zu erhöhen, den Bezug der AHV-Rente zwischen 62 und 70 Altersjahren nach versicherungstechnischen Grundsätzen zeitlich zu flexibilisieren und den Normalsatz der Mehrwertsteuer um 1,5 Prozentpunkte zu erhöhen. Dazu kommen zwei Varianten von Ausgleichsmassnahmen für die betroffenen Frauen (siehe Szenarien B und C in Tabelle 2).
Die von den eidgenössischen Räten Ende September 2018 verabschiedete Neuauflage der Unternehmenssteuerreform beinhaltet auch zusätzliche Einnahmen für die AHV von jährlich mindestens 2 Milliarden Franken ab 2020. Bis 2030 resultieren Mehreinnahmen von rund 30 Mrd. Franken. (2*) Sollte die Vorlage vom Volk angenommen werden, will dies der Bundesrat bei seinen Szenarien B und C dadurch kompensieren, dass er den Mehrwertsteuersatz um 0,7 statt um 1,5 Prozentpunkte erhöht. (3*)
Im Folgenden soll aufgezeigt werden, wie sich die finanzielle Lage der AHV in den kommenden Jahrzehnten entwickeln dürfte. Dabei werden die oben skizzierten Vorschläge dem Status quo gegenübergestellt. Zusätzlich wird in Szenario D aufgezeigt, wie sich eine generelle Erhöhung des Referenzalters auf 66 Jahre auswirken würde. In einem weiteren Szenario E wird Szenario D gekoppelt mit der Steuervorlage 17 (STAF). In Szenario F wird schliesslich untersucht, wie sich ein Referenzalter von 67 Jahren auswirken würde.
Die sechs erwähnten Szenarien sind in Tabelle 2 näher umschrieben. In Szenario D erfolgt 2022-2025 eine Erhöhung des Rentenalters für beide Geschlechter um ein Jahr. Danach wird das Referenzalter der Frauen an das der Männer angeglichen, falls die unerklärte Lohndifferenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen unter eine Grenze fällt, die letztlich politisch festzulegen ist. Gemäss einer Analyse der Lohnstrukturerhebung 2014 betrug diese Lohndifferenz damals 7,4%. (4*) Darin wird zwar das Dienstalter in der Unternehmung, in der 2014 gearbeitet wurde, berücksichtigt, nicht aber die gesamte Dauer der Erwerbstätigkeit. Die so berechnete unerklärte Lohndifferenz darf deshalb nicht als reine Lohndiskriminierung aufgefasst werden. Wenn letztere 2014 5% betragen hätte und halbiert würde, würde die unerklärte Lohndifferenz auf 4,9% sinken. In Szenario D wird die Annahme getroffen, dass das Referenzalter der Frauen auf 66 Jahre steigt, falls die unerklärte Lohndifferenz unter 4% liegt, und dass dies bis 2030 der Fall sein wird.
Szenario D besitzt Parallelen zum Vorschlag, den die Industrie- und Handelskammer Thurgau 2017 gemacht hat. Danach soll das Referenzalter für Männer und Frauen schrittweise von 2021 bis 2032 auf 66 Altersjahre angehoben werden, bei den Männern um einen Monat, bei den Frauen um zwei Monate pro Jahr. (5*) Im Unterschied zu Szenario D erfolgt die Anpassung des Referenzalters der Frauen an das der Männer automatisch, ist also nicht an die unerklärte Lohndifferenz gekoppelt.
Szenario E kombiniert Szenario D mit der Steuervorlage 17, die Mehreinnahmen für die AHV von über 2 Mrd. Franken jährlich beinhaltet. 2021–2030 würden so rund 30 Mrd. Franken zusätzlich in die AHV fliessen. Szenario F stellt eine Erweiterung von Szenario D dar, das Referenzalter wird bis 2030 um ein weiteres Jahr angehoben. Es wird wiederum davon ausgegangen, dass die unerklärte Differenz zwischen den Frauen- und den Männerlöhnen 2030 unter 4% liegen wird, so dass das Referenzalter der Frauen 2031–2034 stufenweise auf 67 Jahre steigt und ab 2034 gleich hoch ist wie das der Männer.
Für die Szenarien D, E und F wurden eigene Berechnungen für die Jahre 2021–2045 aufgrund der in Tabelle 2 dargelegten Annahmen durchgeführt. Sie sind als grobe Schätzungen zu betrachten. Sie weichen jedoch wenig ab von internen Berechnungen des Bundesamts für Sozialversicherungen und dürften die Grössenordnungen korrekt ausdrücken.
Ergebnisse
Die finanziellen Konsequenzen der Szenarien A, B und C sind im Vernehmlassungsbericht des Bundesrats von Ende Juni 2018 für die Jahre 2017–2045 dargestellt. Sie werden im Folgenden unverändert in den Grafiken 1 und 2 wiedergegeben. Aus Grafik 1 ist ersichtlich, dass beim Status Quo ein kumuliertes Umlagedefizit (= Ausgaben - Einnahmen, ohne Kapitalerträge des AHV-Fonds) 2021–2030 von rund 43 Mrd. Franken entsteht, weitere zehn Mrd. Franken sind erforderlich, um den AHV-Fonds Ende 2030 auf den gesetzlich vorgeschriebenen Stand einer Jahresausgabe von rund 60 Mrd. Franken zu bringen. Wie Grafik 2 zeigt, gibt es bei den Szenarien B, C und E keine solche Lücke im Jahr 2030, wohl aber in den Szenarien D und F.
Die Fortschreibung der Szenarien nach 2030 zeigt, dass der AHV-Fonds auch in den Szenarien B, C und E spätestens ab 2034 unter eine Jahresausgabe sinkt. Bis zum Jahr 2045 entstehen somit neue und sehr grosse finanzielle Lücken. Am kleinsten ist sie in Szenario E, in welchem sie eine Jahresausgabe von rund 80 Mrd. Franken annähernd erreicht. In allen anderen Szenarien übersteigt sie eine Jahresausgabe deutlich, so in Szenario B um 36%, in Szenario C um 44%. Nach 2030 sind deshalb in jedem Fall weitere Massnahmen erforderlich, um die AHV finanziell zu stabilisieren.
Ein neuer Vorschlag
Grundsätzlich kann der zukünftige Finanzierungsbedarf mit zusätzlichen Einnahmen oder mit geringeren Ausgaben (durch eine Erhöhung des Referenzalters oder einer Senkung der laufenden Renten) gedeckt werden. Die Kürzung von laufenden Renten wird hier nicht betrachtet; sie gilt als politisches Tabu. Falls die AHV ausschliesslich oder vorwiegend mit zusätzlichen Einnahmen saniert würde, müsste dies von den Erwerbstätigen (höhere Lohnbeiträge) oder der gesamten Bevölkerung (Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1,5 Punkte bis 2030 und um weitere rund 10 Punkte bis 2045) getragen werden. Dies ist sehr kostspielig und politisch schwierig durchzusetzen.
Wollte man die AHV bis 2030 einzig über eine Erhöhung des Referenzalters sichern, so würde weder eine Anhebung auf 66 Altersjahre (Szenario D) noch eine Erhöhung auf 67 Jahre (Szenario F) ausreichen, um ein ausgeglichenes Umlage-Ergebnis zu erzielen. Der AHV-Fonds würde 2030 auf rund 60 (Szenario D) respektive 69% (Szenario F) der Jahresausgaben absinken.
Deshalb wird hier vorgeschlagen, die AHV-Reform auf den Zeithorizont 2030 auszurichten und als Kombination von Mehreinnahmen und einer Erhöhung des Referenzalters in folgenden drei Schritten vorzugehen:
- Annahme der Steuervorlage 17, wodurch der AHV Mehreinnahmen von rund 30 Mrd. Franken bis 2030 und gegen 50 Mrd. Franken 2031–2045 zukommen.
- Schrittweise Erhöhung des Referenzalters für alle um ein Jahr in den Jahren 2022–2025. Eine Flexibilisierung des Referenzalters auf 62–70 Altersjahre nach versicherungstechnischen Grundsätzen (wie im Vorschlag des Bundesrats) kann problemlos darin einbezogen werden und würde an den oben dargelegten finanziellen Auswirkungen nichts verändern.
- Anpassung des Referenzalters der Frauen an das der Männer, d. h. Referenzalter 66 für alle, sobald die unerklärte Differenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen unter 4% (oder eine andere, politisch festgelegte Grenze) sinkt. Sofern dies 2030 der Fall ist, entspricht der Vorschlag exakt Szenario E.
Das Argument, dass das Referenzalter der Frauen aufgrund der Lohndiskriminierung nicht an das der Männer angeglichen werden darf, wird damit hinfällig. Ein Vorteil verbleibt den Frauen: im Jahr 2013 betrug ihre Lebenserwartung bei Geburt 84,8, bei den Männern lediglich 80,5 Jahre. Das wird sich auch in absehbarer Zukunft nicht verändern, die Lebenserwartung von 65-jährigen Frauen steigt 2015–2045 voraussichtlich von 22,4 auf 25,9 Jahre, die Differenz zu gleichaltrigen Männern sinkt von 2,8 auf immer noch 2,4 Jahre. (6*)
Dazu kommt, dass das Schweizer Referenzalter im internationalen Vergleich tief ist. So hatten 2016 von den 35 Mitgliedländern der OECD acht ein höheres und 13 ein tieferes ordentliches Referenzalter als die Schweiz. Für die heute 20-Jährigen zeigt sich indes ein anderes Bild: 15 OECD-Länder kennen ein höheres und nur sechs ein tieferes Referenzalter als die Schweiz. (7*)
SKOS-Vorschlag für ältere Arbeitslose
Der Bundesrat wendet sich mit folgendem Argument gegen eine Erhöhung des Referenzalters über 65 Jahre: «Tatsächlich haben ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oft Schwierigkeiten, auf dem Arbeitsmarkt zu verbleiben oder bei Arbeitslosigkeit einen Arbeitsplatz zu finden.» (8*) Er befürchtet deshalb eine Kostenverlagerung von der AHV zur Arbeitslosenversicherung oder anderen Sozialwerken.
Dem ist entgegenzuhalten, dass ab 2020 doppelt so viele Arbeitskräfte pensioniert werden, wie junge nachrücken. Dies (und die zu erwartenden Einschränkungen bei der Einwanderung) wird die Arbeitgeber in ihrem eigenen Interesse zu einem anderen Verhalten gegenüber älteren Arbeitnehmenden bewegen. Andernfalls sind gesetzliche Schutzmassnahmen für ältere Arbeitnehmende einzuführen.
Kürzlich hat die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe (SKOS) einen interessanten Vorschlag dazu gemacht. Demnach sollen Arbeitslose, die über 55 Jahre alt und ausgesteuert sind, bei der Stellensuche weiterhin durch die Regionale Arbeitsvermittlung (RAV) betreut werden. Kann keine neue Stelle gefunden werden, sollen diese Personen spezielle Ergänzungsleistungen statt Sozialhilfe erhalten. Die Mehrkosten für 4000 Arbeitslose zwischen 57 und 62 Altersjahren betragen gemäss SKOS lediglich 25 Mio. Franken pro Jahr. (9*)
Chance für politische Akzeptanz
Eine Kombination von Mehreinnahmen mit einer Erhöhung des Referenzalters verteilt nicht nur die Lasten der AHV-Finanzierung adäquater und entlastet gleichzeitig die Pensionskassen, sie dürfte auch deshalb auf mehr politisch Akzeptanz stossen. Der Vorschlag des Bundesrats geht zwar in diese Richtung, er ist jedoch beim Referenzalter viel zu zaghaft und bezüglich der Nachteile zu pessimistisch.
Der oben skizzierte Vorschlag ist konsequenter und sichert zudem eine gesetzeskonforme Finanzierung der AHV bis 2034, rund drei Jahre länger als die Vorschläge des Bundesrats. Und nur mit ihm würde der AHV-Fonds 2045 noch ein leichtes Plus aufweisen; bei allen anderen Szenarien resultiert dagegen ein mehr oder weniger hohes Minus (siehe Grafiken 1 und 2). Trotzdem: Spätestens Mitte der dreissiger Jahre werden in jedem Fall zusätzliche Massnahmen erforderlich. Hierfür wird man die wirtschaftliche Lage und die finanzielle Situation der AHV vor dem Jahr 2030 grundlegend neu beurteilen müssen.
Anmerkungen:
(1*) Bundesamt für Statistik, www.bfs.admin.ch (09.10.2018).
(2*) Eidgenössisches Departement des Innern, Stabilisierung der AHV (AHV 21) Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens vom 27.06.2018, S. 14.
(3*) Ebenda.
(4*) Büro Bass, Analyse der Löhne von Frauen und Männern anhand der Lohnstrukturerhebung 2014, Schlussbericht. Im Auftrag von: Bundesamt für Statistik BFS, Abteilung Wirtschaft Sektion Löhne und Arbeitsbedingungen, Silvia Strub und Livia Bannwart, Bern, 2. März 2017, S. II.
(5*) https://www.ihk-thurgau.ch/wirtschaft-politik/rentenreform/index.html (09.10.2018)
(6*) Bundesamt für Statistik, Szenarien zur Bevölkerungsentwicklung der Schweiz 2015 –2045, Neuchâtel 2015, S. 20–21.
(7*) OECD, Pensions at a Glance, Paris 2017, S. 92–95, https://www.oecd-ilibrary.org/docserver/pension_glance-2017-en.pdf?expires=1539432518&id=id&accname=guest&checksum=034B59EF38F757E0E9E98C269A92B577 (13.10.2018)
(8*) Eidgenössisches Departement des Innern, Stabilisierung der AHV (AHV 21) Erläuternder Bericht zur Eröffnung des Vernehmlassungsverfahrens vom 27.06.2018, S. 34
(9*) Medienmitteilung SKOS vom 05.11.2018, https://www.skos.ch/medien/medienkonferenzen/ (30.11.2018).