Der Sicherheitsrat der Uno einigte sich am Freitag, nach mehrtägigem Hin und Her, auf eine schwammige Resolution zum Krieg im Gaza-Streifen.
Die 2,2 Millionen Menschen im bereits weitgehend zertrümmerten Mini-Gebiet (etwa so gross oder klein wie der Kanton Schaffhausen) sollen mit mehr Nahrungsmitteln, Wasser und Medikamenten versorgt werden, aber ohne dass die Bombardemente oder der Krieg am Boden enden müssten. Also: keine Verpflichtung für Israels Regierung – und auf der Gegenseite zwar ein Appell an Hamas, die in Verliesen gefangenen Geiseln frei zu lassen, aber kein Wort der Verurteilung des Hamas-Terrors vom 7. Oktober. 13 Mitglieder des UNO-Sicherheitsrats (darunter auch die Schweiz) votierten (man muss wohl sagen «faute de mieux») für die Resolution, die USA und Russland enthielten sich.
In diesem so mühsam ausgehandelten Text ist wichtiger, was nicht drin steht, als das, was er enthält. Kein Wort mehr (eine solche Formulierung forderte der von den Vereinigten Arabischen Emiraten eingebrachte Entwurf) von einem «Ende der Feindseligkeiten», auch nichts mehr von der bereits abgeschwächten Idee einer Feuerpause («suspension of hostilities» lautete das englische Original). Eine Einigung gab es lediglich für die schwammige Forderung, es müssten die «Bedingungen geschaffen werden für ein nachhaltiges Ende der Feindseligkeiten». Verwaschen wirkt auch die Forderung, die Lieferung humanitärer Güter müsse durch die Uno überwacht werden – jetzt steht im Text, der Uno-Generalsekretär müsse einen Koordinator für Hilfsgüter ernennen. Worauf die israelische Regierung prompt konterte, sie selbst behalte sich vor, sämtliche Konvois zu kontrollieren, die einen der Grenzübergänge in den Küstenstreifen passieren wollten. Was, das sagen alle Mitarbeiter von humanitären Organisationen vor Ort, zu weiteren Verzögerungen und somit zu einer weiteren Zuspitzung der humanitären Katastrophe führen wird. Und dies angesichts der sich bereits drastisch ausbreitenden Hungersnot – 577’000 Menschen sind jetzt eben nicht nur von Mangel bedroht, sondern leiden akut unter Hunger.
Enttäuschung über die Verwässerung
Am Sitz der Uno in New York verhehlten Diplomatinnen und Diplomaten zahlreicher Länder ihre Enttäuschung über die Verwässerung der während fünf Tagen und Nächten ausgehandelten Resolution nicht einmal mehr mühsam. Die von den USA stufenweise geforderte Abschwächung scheint manchen umso unverständlicher, als Präsident Biden wenige Tage früher noch öffentlich zumindest eine «humanitäre Feuerpause» gefordert und Israel aufgefordert hatte, die Ziele im Gazastreifen mit mehr Bedacht, also mit mehr Rücksicht auf die Bevölkerung, zu definieren. Doch offenkundig wurde während der heissen Verhandlungstage der Druck durch den israelischen Premier derart hoch, dass Biden mit dem Veto gegen jede griffige Formulierung drohte.
Premier Netanjahu seinerseits bleibt dabei: Israel wird den Krieg in der jetzigen Weise fortführen, bis Hamas vernichtet ist und alle Geiseln frei sind. Doch beide Ziele zu erreichen, widerspricht schlicht jeglicher Logik: Weshalb sollen die Terroristen ihr wichtigstes Faustpfand, die Geiseln, frei geben, wenn sie danach mit dem sicheren Tod rechnen müssen? Alles spricht dafür, dass sie die nun schon seit zweieinhalb Monaten in Verliesen Gefangenen umso länger in ihrer Gewalt halten werden, je enger ihr eigener Lebensraum wird. Und entsprechend dieser Logik formuliert Hamas jetzt einmal mehr die Forderung: Freilassung der Opfer erst nach einem Ende der Feindseligkeiten. Es sei denn, man einige sich noch einmal durch Verhandlungen via Katar oder Kairo (die Regierungen beider Staaten sind im Kontakt mit Hamas-Vertretern) auf einen Tausch: einige Geiseln gegen eine grössere Zahl von Palästinensern, die von Israel inhaftiert worden sind.
Israel hat sich alles anders vorgestellt
All das rollt vor dem Hintergrund eines Kriegs ab, den sich die israelische Regierung anders vorgestellt hat. Premier Netanjahu und seine Generäle gingen davon aus, dass sie mit ihrem hoch professionellen Militär die Tunnels und Kommandozentralen unter den Wohnhäusern, Schulen und Spitälern in wenigen Tagen, schlimmstenfalls wenigen Wochen finden und zerstören und die obersten Verantwortlichen eliminieren könnten. Doch wenn das Schlagwort des asymmetrischen Kriegs jemals zutreffend war, dann auf diesen Konflikt.
Eine unbestimmte Zahl von Tunnelsystemen konnten die Israeli zwar ausfindig machen, aber keiner der wichtigen Hamas-Verantwortlichen wurde bisher gefunden. Und der Krieg fordert auch bei den israelischen Soldaten und Offizieren mehr Opfer als erwartet. Offiziell, so die Statistik bis zum 23. Dezember, starben 460 Israeli, 1900 wurden verwundet. Aber die als seriös geltenden Zeitungen Yedioth Ahronoth und Times of Israel gelangen, durch Nachfragen beim Rehabilitation Department des Verteidigungsministeriums, auf bedeutend höhere Zahlen zumindest in Bezug auf die Verwundeten – 6125 ist die von Times of Israel publizierte Zahl. Andere Publikationen in Israel befassen sich mit den materiellen Folgen: 2,5 Milliarden Schekel (rund 550 Millionen Franken) kostet der Krieg jeden Tag. All das trägt zu einer Veränderung der Haltung bei der israelischen Bevölkerung bei: Laut einer vom Lazar Institut durchgeführten Umfrage befürworten derzeit 67 Prozent einen Waffenstillstand im Gegenzug zur Freilassung der Geiseln. Strikt dagegen sind 22 Prozent, elf Prozent sind unsicher.
Welche Lehren können wir aus all dem ziehen?
- Die so genannte internationale Gemeinschaft ist so machtlos, dass sie sich im wichtigsten Gremium, im Sicherheitsrat der Uno, nur auf tiefstem Nenner einigen kann. Schuld daran ist das Veto-Recht zugunsten jener Staaten, die als Sieger aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgingen: USA, Grossbritannien, Frankreich, Russland – plus China. Wenn es um Israel geht, nutzen die USA die Drohung mit dem Veto so, dass selbst im besten aller denkbaren Fälle nur Resolutionen mit derart schwammigem Inhalt Erfolg haben, dass sie praktisch wirkungslos sind.
- Israels Regierung verfolgt zwei miteinander nicht vereinbare Ziele: Vernichtung von Hamas (verständlich als Reaktion auf den Hamas-Massenmord vom 7. Oktober mit 1’200 Todesopfern und mehr als 200 Geiseln) und Befreiung der Geiseln. Nicht vereinbar sind die beiden Ziele schlicht aufgrund einer simplen Logik: Weshalb sollen die Hamas-Leute ihre Faustpfänder aufgeben, um danach dem sicheren Tod ins Auge zu schauen?
- Noch immer herrscht Ratlosigkeit über die Zukunft, eine Zeit nach dem Krieg. Einige arabische Regierungen scheinen die Vorstellung zu favorisieren, man könne die palästinensische Verwaltungsbehörde des (bei Palästinensern selbst unpopulären) Mahmud Abbas, derzeit zuständig für das Westjordanland, als Behörde im Gazastreifen einsetzen. Gut meinende westliche Regierungen stellen sich eine Übergangszeit unter internationaler Leitung vor. Israels Premier Netanjahus «Vision» sieht anders aus: Neu-Aufbau einer Behörde unter der Leitung von Gaza-Palästinensern, die keine aggressiven Absichten gegen Israel haben. Wo die nach der Zerstörung eines Grossteils ihrer Behausungen im Küstenstreifen und den tausenden Todesopfern, nach dem durch den Krieg erzeugten Hass, zu finden wären, bleibt allerdings rätselhaft. Und ebenso rätselhaft bleibt, wo nach dem Hamas-Terror des 7. Oktobers noch Israeli zugunsten einer Zweistaaten-Lösung (palästinensischer Staat an der Seite Israels) zu finden wären.
Ich gebe zu: Das alles stimmt nicht weihnachtlich – wenn das für Sie, liebe Leserin, lieber Leser von journal21 eher deprimierend wirkt, kann ich Ihnen als sehr schwachen Trost nur mitteilen: Es deprimiert auch mich. So sehr, dass weihnachtliche Stimmung einfach nicht aufkommen will.