Ein altes Streitinstrument. Man kehrt die Richtung eines Arguments um. Macht zum Beispiel den Täter zum Opfer. Dabei lassen sich zwei Hauptlinien unterscheiden. Man geht nicht ein auf den Streitpunkt, oder man kritisiert den Streitenden. Der gegenwärtige Krieg in der Ukraine ist vor allem auch ein Desinformationskrieg. Und hier spielt eine argumentative Waffe eine zentrale Rolle: der «Whataboutism». Die Rhetorik spricht vom Argument des «Tu quoque», der Du-auch-Erwiderung.
Zwei Hauptlinien des Whataboutism
Ein Beispiel für die erste Linie: A wirft B vor «Mit deinem Fleischkonsum trägst du zum Klimawandel bei». B erwidert «Fliegst du nicht dreimal pro Jahr in die Ferien?». Beide Gewohnheiten haben natürlich mit dem Klimawandel zu tun. Aber man geht eigentlich nicht auf das Thema ein, sondern lenkt von ihm ab. Ein Beispiel für die zweite Linie: A sagt «Die ganze Wokeness-Unkultur ist Symptom dafür, Aufmerksamkeit durch Opferstatus zu erheischen». B erwidert «Das sagst du doch nur, weil du ein frustrierter alter weisser Sack bist, dem die Aufmerksamkeit fehlt». Das klassische Argumentum ad hominem also.
Whataboutism in Russland und in den USA
Whataboutism kann die direkte Lüge umschiffen. Wir erfahren die Taktik gegenwärtig lehrbuchmässig am Beispiel der hochtourigen russischen Propagandamaschine. Angeworfen wurde sie schon im Kalten Krieg. Jede Kritik aus dem Westen prallte am Panzer des «Du auch» ab. Ein subversiver russischer Witz bringt das schön zum Ausdruck. Im Radio fragt ein Hörer den Moderator «Wie hoch ist der Durchschnittslohn eines amerikanischen Arbeiters im Vergleich zu einem russischen?» Lange Pause. Dann die Antwort: «Dort drüben lynchen sie Schwarze.» Zur Zeit des Kollapses der Sowjetunion galten solche Witze als Musterbeispiel für russische Propaganda.
Bleiben wir nicht auf Russland fixiert. Joe Arpaio, «Amerikas härtester Sheriff», berüchtigt für seine brutalen, rassismusverdächtigen Haftmethoden in Phoenix, wurde 2017 schuldig gesprochen, gegen richterliche Anweisungen zur Gleichbehandlung verstossen zu haben. Ihm drohte eine sechsmonatige Haftstrafe. Donald Trump begnadigte ihn. Begründung: Auch Präsident Clinton drückte ein Auge zu bei Marc Richs inkriminierten Finanztransaktionen; und Obama gewährte Straferlass bei der Whistleblowering Chelsea Manning. Was ist mit ihnen? Es schimpfe doch kein Esel – sprich US-Präsident – den anderen Langohr.
Whataboutism und Relativierung
Es gibt den sattsam bekannten Whataboutism, der in abgestandener Relativierung dümpelt. Wenn heute Russland sein Regime in die Ukraine «exportieren» will – was ist mit dem amerikanischen «Export» der Demokratie im Irak 2003? Was ist mit dem Faktum, dass die USA wiederholt das Völkerrecht und die nationale Souveränität verletzen, wenn sie in Länder einfallen, Aufstände unterstützen, um genehme Regimes an die Macht zu bringen, unter dem Vorwand der «präemptiven Selbstverteidigung»? Was ist mit der liberalen internationalen Ordnung – «rule-based order» –, die wesentlich von den USA formuliert und diktiert wird, damit der Verbund «freundlicher» Nationen davon profitiert und andere, schwächere Nationen kaum einen Einfluss auf diese sakrosankte Ordnung haben? Was ist mit ...? Was ist mit ...?
Natürlich stimmt das alles. Zum Teil. Aber Russland führt einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Punkt. Relativierender Whataboutism ist hier irrelevant. Er riskiert, ein Unrecht durch ein anderes zu legitimieren. Ach, wie kompliziert ist doch der Krieg. Und irgendwie sind doch beide Seiten schuld. Eine bequeme Form der Selbstabsolution. Ganz richtig schreibt der Kunstwissenschafter Jörg Heiser kürzlich: «Historische und aktuelle Vergleiche sind illegitim, wenn sie die Auflösung von Solidarität nach dem Muster des «bothsideism» betreiben; sie ergeben Sinn, wenn sie dazu beitragen, die Dringlichkeit der jetzigen Situation zu verstehen». [1]
Regressiver und progressiver Whataboutism
Eine Variante des Whataboutism unterminiert die Aussage des Gegners dadurch, dass man versucht, sie als inkonsistent mit früheren Aussagen herauszustellen. «Du bist jetzt für eine allgemeine Impfpflicht, wo du doch noch vor einem halben Jahr dagegen warst.» Na und? Vielleicht hat sich ja die epidemiologische Situation inzwischen drastisch verschlechtert; und vielleicht sind die Gründe der Meinungsänderung es wert, genauer bedacht zu werden. Hier zeigt sich ein typisches Merkmal des Whatabaoutism: Schiessscharten-Denken. Man fixiert nur gerade den Gegner, blendet den Kontext der Meinungsänderung aus.
A propos Inkonsistenz. Natürlich verhalten wir uns gelegentlich widersprüchlich, niemand hat eine fehler- und schuldlose Vergangenheit. «Nobody is perfect.» Daraus lässt sich immer ein leichter und billiger Grund für das Spiessumdrehen zimmern. Aber abgesehen von diesem billigen Trumpf kann Whataboutism durchaus Fronten lockern, indem man sich der eigenen Perspektive bewusst wird. Man könnte von regressivem und progressivem Whataboutism sprechen. Der erste verharrt im starrsinnigen «Du auch». Der zweite hebt die Streitenden auf eine höhere, «synthetische» Ebene der Diskussion. Er bringt Voreingenommenheiten an den Tag. Der schweizerische Philosoph Elmar Holenstein nennt dies die «Nos-quoque-Regel»: die Wir-auch-Regel. Wer’s vergessen hat: Dialog nennt sich das. Wir alle lösen unsere Probleme eher schlecht als recht. Um schlecht in weniger schlecht zu verwandeln, braucht es den kritischen Standpunkt des anderen. Das klingt abgedroschen, aber gerade eine Zeit des Mobbing, Canceling, Faking macht diese Abgedroschenheit zu einer akuten zivilisatorischen Aufgabe.
Whataboutism und Doppelmoral
Whataboutism hat meist einen moralischen Einschlag. Es ist von Doppelmoral die Rede. In der aktuellen schweizerischen Debatte steht der Flüchtlingsstatus im Brennpunkt, genauer: die Bevorzugung von «echten» Flüchtlingen aus der Ukraine. Auch hier ertönt sofort die Frage: Und was ist mit Flüchtlingen aus Syrien, Afghanistan, Afrika? Das ist in der Tat eine berechtigte Frage. Und sie könnte im Sinn des progressiven Whataboutism zu einer fruchtbaren Neukonzeption des Flüchtlingsstatus anstossen.
Damit meine ich Folgendes: Der Flüchtling flieht aus einem Ort. Er kommt an einem anderen Ort an. Er ist also auch ein Ankömmling. Hannah Arendt sprach von «Neuankömmling». Sie meinte generell den Menschen als ein Wesen, das frei ist dadurch, dass es ankommen kann: «Der Neubeginn, der mit jeder Geburt in die Welt kommt, kann sich in der Welt nur darum zur Geltung bringen, weil dem Neuankömmling die Fähigkeit zukommt, selbst einen neuen Anfang zu machen, d. h. zu handeln.» Gerade jetzt, da wir es mit «echten» und «unechten» Flüchtlingen zu tun bekommen, erschiene diese allgemeinere Kategorie des Neuankömmlings durchaus einer vertieften Betrachtung wert. Selbstverständlich nicht im Sinn einer unkritischen Aufnahmebereitschaft, vielmehr im Sinn eines Blickwechsels auf den Flüchtling als ein Subjekt, dem nicht einfach geholfen wird, sondern das frei handeln und sich womöglich selber helfen kann.
Whataboutism und Kriegsverbrechen
Nicht zuletzt sucht Whataboutism auch Gerichtsverfahren über Verbrechen gegen die Menschlichkeit heim. Hier stellt sich ein heikles Problem: Wenn man diesen besonderen Kriegsverbrecher verurteilt, was ist mit den anderen, die man nicht vor Gericht stellen kann? Ein Dilemma: Wenn das Gericht diesen einen Verbrecher verurteilt, ist es nicht gerecht; und wenn es gerecht sein will, dürfte es keinen Verbrecher verurteilen. Das internationale Kriegsverbrechertribunal für Ex-Yugoslawien entschied sich zum Beispiel für das erste Horn des Dilemmas. Im Fall des Soldaten Zoran Kupreskic im Bosnienkrieg argumentierte es so: Das Gute, das aus der Verurteilung eines Mörders bosnischer Muslime resultiert, überwiegt das Übel, das aus der Nichtverfolgung ähnlicher Kriegsverbrecher resultiert. Man sollte sich das auch für den Übeltäter aus dem Kreml vormerken.
[1] republik.ch/2022/04/07/keine-ausreden