Sie ist mit ihrer Werkschau am richtigen Ort: Das Œuvre der 80-Jährigen ist in seiner Gesamtheit eine Erforschung der Möglichkeiten konstruktiver Kunst. Eine der ausgestellten Arbeiten sei hier stellvertretend für die Breite des Gezeigten herausgehoben.
«Rotation um einen Mittelpunkt» heissen mehrere ab 1980 entstandene quadratische Bilder, die auf dem visuellen Gestaltungselement der Drehung basieren. Sie stehen exemplarisch für Marguerite Hersbergers konstruktiven Ansatz, der stets vorzeigt, wie eine Arbeit oder eine Werkserie gedacht ist, auf welchen formalen Prinzipien sie beruht und wie sie durch das Spiel nach selbstgewählten Regeln ihre Form findet.
Dieser Grundgedanke steckt auch hinter einem neuen Werk mit dem gleichen Seriennamen (Bild oben). Doch vor einer näheren Betrachtung dieses kapitalen Stücks sei der Blick auf eine Charakteristik konstruktiver Kunst gerichtet, wie sie sich im Hersbergerschen Schaffen exemplarisch zeigt.
«Konkrete» oder «konstruktive» Kunst
Konstruktive Kunst spielt mit Form, Farbe, Linie, Fläche, Körper, Material. In Marguerite Hersbergers Werkschau ist der Werkstoff Acrylglas prominent vertreten. Gestaltungselemente und Materialien sind nun aber niemals bloss Mittel, sondern sie sind genau das, worum es geht. Im gestalterischen Spiel – gewissermassen ohne Umweg über einen Darstellungszweck – werden sie zu Kunst. Was die Künstlerin zur Hand nimmt, «dient» nicht zur Darstellung von etwas anderem als es selber ist, sondern soll sein, was es ist: Form, Farbe, Linie, Fläche, Körper, Material – und in diesem Sinne ist es «konkret», wie diese Kunstrichtung ja auch benannt wird.
Marguerite Hersberger bevorzugt jedoch die Bezeichnung «konstruktiv». Sie legt damit den Akzent auf den Schaffensprozess, nicht auf dessen Ergebnis. Was als Produkt künstlerischer Kreation am Ende dasteht, könnte immer auch anders sein. Das aus dem Prozess hervorgegangene Werk ist, philosophisch gesprochen, nicht «notwendig», sondern «kontingent» – so der Begriff für alles, was nicht notwendigerweise ist, wie es ist, sondern genauso gut anders sein könnte.
Marguerite Hersberger legt den Akzent auf den Schaffensprozess, nicht auf dessen Ergebnis.
Das widerspricht frontal einem verbreiteten Kunstverständnis, das den Künstler als einen Titanen sieht, der darum ringt, seinem Werk die «gültige» Gestalt zu geben. Der sprichwörtliche letzte Farbtupfer, Pinselstrich oder Meisselschlag entscheidet, ob die Arbeit zum Meisterwerk wird oder misslingt. Nur das Genie erkennt diese feine Grenze, die zwischen ästhetischem Alles und Nichts liegt. Dabei geht es nicht so sehr um handwerkliches Können, sondern meist um eine kryptische Dimension von Genialität. Desto ungehinderter blüht der Geniekult, und zwar besonders im weiten Feld der abstrakten Malerei.
Kunst der Kontingenz
Marguerite Hersberger ist mit ihrer Arbeitsweise nicht auf künstlerische Höhenflüge aus. Sie strebt nicht zu den Regionen der dünnen Luft, sondern bewegt sich in Bodennähe. Indem ihre Sachen zeigen, dass sie auch anders sein könnten, lassen sie den selbstquälerischen Anspruch auf eine geniale Einzigkeit hinter sich. Künstlerische Arbeiten, die sich im Bereich der Kontingenz verorten, verzichten auf die Prätention des Notwendigen, sie heben sich nicht aus der Lebenswelt ihres Publikums heraus, die ja ebenfalls von lauter Kontingenzen bestimmt ist. Alles, was unser Leben ausmacht, könnte auch anders sein, und es ist unsere grundlegende Erfahrung, dass Dinge in der Tat ohne erkennbaren Sinn schleichend oder schlagartig anders werden.
Künstlerische Arbeiten, die sich im Bereich der Kontingenz verorten, verzichten auf die Prätention des Notwendigen, sie heben sich nicht aus der Lebenswelt ihres Publikums heraus, die ja ebenfalls von lauter Kontingenzen bestimmt ist.
Eine kontingente Kunst wendet sich gewissermassen an diese Lebensrealität. Indem sie schön, interessant und inspirierend ist, ohne als «notwendig», will heissen als unabänderlich und letztgültig erscheinen zu müssen, macht sie das Schöne spielerisch. Liegt der Sinn und Gehalt von Kunst im Prozesshaften und Unabgeschlossenen, so entfällt der Anspruch auf den Ewigkeitswert des genial Schönen. Stattdessen macht sie das Vorläufige und Veränderliche schön.
Das ist der Moment, um zu dem von Marguerite Hersberger eigens für die jetzige Ausstellung geschaffenen Wandbild «Rotation um einen Mittelpunkt» zurückzukehren. Vergänglicher als diese direkt auf die Wand aufgetragene Arbeit kann ein Kunstwerk kaum sein. Denn selbst wenn das Haus Konstruktiv das Werk über das Ende der Ausstellung hinaus an dieser Wand im dritten Stock beliesse, so wäre sein Ende spätestens mit dem bereits beschlossenen Auszug des Museums aus diesem Domizil besiegelt.
Farbfeld und geometrische Linien
«Rotation» besteht aus einem monochromen lichtblauen Rechteck, das vom Boden bis fast zur Decke eines hohen Raums des Museums reicht. In der Breite bedeckt es fast dessen gesamte Stirnwand. Das helle, heiter stimmende Blau gewinnt durch die schiere Grösse der Bildfläche eine den ganzen Raum füllende, fast hypnotische Wirkung.
Was würde man sehen, wenn die ganze Wand in diesem Blauton gestrichen wäre? Es wäre einfach eine blaue Wand, deren Farbe man schön finden könnte, ein Akzent der Innenarchitektur, wie er oft eingesetzt wird, um bestimmte Raumwirkungen zu erzielen. Als aufgemaltes Rechteck jedoch, besonders wenn es sich in einem Kunstmuseum befindet, erhebt die blaue Fläche aber unvermeidlich den Anspruch, als Bild wahrgenommen zu werden. «Rechteckiges Objekt an Wand» ist sozusagen die übliche Erscheinungsform von Bildern. Nicht nur Museumsbesucherinnen haben das intus. Was diese Form hat, weckt vorgeprägte Erwartungen, die in gewisser Weise zu «Material» werden können, mit dem die Künstlerin spielt.
Was der Erscheinungsform von Bildern entspricht, weckt Seh-Erwartungen, die zu «Material» werden können, mit dem die Künstlerin arbeitet.
Das blaue Rechteck an der Museumswand ist eine Art von Trompe-l’oeil: Wie die klassischen kunstfertigen Augentäuschungen mit raffinierter Maltechnik ein dreidimensionales reales Objekt suggerieren, so verleitet das auf die Wand aufgetragene Farbrechteck auf den ersten Blick zur Annahme, vor einem an die Wand montierten grossflächigen Bild zu stehen. Doch die Täuschung beruht nicht auf Maltechnik, sondern auf eigener Erwartung.
Beim zweiten Blick stellt sich Irritation ein. Denn über dem grossformatigen Farbfeld liegt ein zweites Bild aus feinen graphitgrauen geometrischen Linien, die einen stärker, die anderen ganz fein, an der Schwelle der Erkennbarkeit. Und dieses Linienbild geht über das blaue Rechteck hinaus, so dass die Grenzen des Bildformats plötzlich unklar werden. Was zuerst als Bild an der Wand erschien, erweist sich als Wandmalerei – oder ist beides gleichzeitig.
Spiel der reinen Formen
Die Linienstruktur löst beim Betrachten den Reflex des Lesens aus. Niemand kann sich vor einem derartigen Kunstobjekt enthalten, Formen mit dem eigenen Repertoire abzugleichen und zu benennen, und so sieht man denn: Gerade, Strecke, Quadrat, Kreis.
Als Erstes fallen zwei sich überlagernde Quadrate auf, die auf einem regelmässigen, die ganze Farbfläche gliedernden Raster liegen. Sie sind je in einen Kreis eingeschrieben, der sie jeweils – das zeigt erst ein näherer Augenschein – etwas ausserhalb der Ecken umrundet und also neben der Rasterstruktur liegt. Ein dritter, schwach wahrnehmbarer Kreis setzt die diagonale Verschiebung der ersten beiden fort.
Neben den Elementen Quadrat und Kreis weist die Linienstruktur drei schräge Geraden auf. Zwei von ihnen stehen senkrecht zueinander: ihre Richtungen lassen sich aber nicht aus dem Raster ableiten. Sie sind in dieser Ordnung noch etwas fremder als die Kreise und schaffen Dynamik. Je länger man das Linienbild betrachtet, desto mehr feine Strukturen tauchen auf aus dem Blau. Manche Linien sind hauchdünn, einige sind durch die Schnittpunkte mit anderen Linien gegliedert in kräftige und feine Strecken.
Das Werk «Rotation» ist nicht «abstrakt», denn die bildnerischen Elemente haben keine Bezüge zu Realitäten ausserhalb des Bildes.
Versucht man das Bild zu lesen, so ist man gänzlich auf Formen verwiesen. Sie geben keinerlei «Bedeutungen» her. Das Werk «Rotation» ist in dem Sinn auch nicht «abstrakt», denn die bildnerischen Elemente haben keine Bezüge zu Realitäten ausserhalb des Bildes, sind nicht von etwas anderem abstrahiert, sondern sind allein sie selbst. Zu sehen ist ein reines Formenspiel.
Das Bild könnte auch anders sein, doch so, wie es ist, bildet es ein komplexes Ensemble von Harmonie und Dynamik. Das gestalterische Spiel scheint angehalten worden zu sein, als es diesen Moment der Erlebnisdichte und Schönheitsanmutung erreicht hatte. Der Prozess könnte aber auch weiterlaufen und bei neuen Versionen anlangen, die vielleicht ähnlich gut oder gar besser wären. Wir wissen es nicht und brauchen es nicht zu wissen.
Museum Haus Konstruktiv
Marguerite Hersberger: Dem Raum Raum geben
kuratiert von Sabine Schaschl und Evelyne Bucher
Publikation erscheint am 15. November
bis 14. Januar 2024
Gleichzeitig zu sehen
Damián Ortega: Essay on Exchange
kuratiert von Sabine Schaschl
bis 14. Januar 2024