Wir leben im Zeitalter des Postexpertismus. Gut erkennbar daran, dass die Autorität der Wissenschaft in letzter Zeit hinterfragt wird – die Autorität jener Instanz also, die nach bisherigem Verständnis verbindliche Antworten liefert.
Nehmen wir zum Beispiel Klimawandel und Coronapandemie. Bei beiden handelt es sich um komplexe Phänomene. Und wie immer bei solchen Phänomenen gibt es Dissens unter den Experten. Das gehört zur wissenschaftlichen Normalität. Aber gerade nicht normale Bedingungen wie Klimawandel oder Pandemie akzentuieren ein anderes Problem: Die Phänomene sind von allgemeinem Belang, sie gehen Wissenschaftler und Laien direkt und dringlich an.
Und hier tritt ein gestörtes Verhältnis zwischen beiden zutage. Die Spezialisten liegen sich ja ständig in den Haaren, sagt sich der muckende Laie, und wenn schon die Wissenschaftler uneins sind, dann kann auch ich meinen eigenen Senf zur Uneinigkeit beitragen. Was sich als Symptom eines tieferen Konflikts herausstellt: eine Krise der Erkenntnisautorität. Ganz offensichtlich daran zu erkennen, dass man den Leuten, die dafür ausgebildet sind, über ein gewisses Gebiet kompetent zu urteilen, nicht mehr vertraut. Dafür aber meint, mit einer Do-it-yourself-Theorie das ganze gesammelte Fachwissen über den Haufen werfen zu können.
Die Pluralität der Weltdeutungen
Es gibt heute nicht nur eine Pluralität des wissenschaftlichen Expertentums. Wissenschaft selbst ist eine Wissensform unter vielen andern. Und jede hat ihr Anrecht auf Weltdeutung. Neben der Evolutionsbiologie liegt die Schöpfungslehre, neben der Quantentheorie die hinduistische Mystik, neben der modernen Medizin die schamanische Geistheilung im Regal: Man bediene sich! Damit ist nichts Abschätziges über Schöpfungslehre, Hinduismus oder Geistheilerei gesagt. Aber die Tendenz zur zeitgeistigen Tribalisierung des Wissens macht besonders den Naturwissenschaften nicht nur das «elitäre» Erklärungsmonopol streitig, sondern führt zu einer Nivellierung, welche die substanziellen Unterschiede verwischt. Wenn alles gleich gültig ist, ist nichts mehr gültig. Dann ist die Behauptung, Aids sei eine göttliche Strafe für unsittliches Leben, «auf ihre Art» eine gleich ernst zu nehmende Bewerberin wie eine medizinische Theorie. Dann entsteht ein Expertenbasar, ja, ein Expertenbabel.
Expertokratie
Dem Pol des Postexpertismus gegenüber liegt die Expertokratie. Angesichts der Komplexität der Probleme, mit denen Demokratien zu kämpfen haben, stellt sich die Frage immer dringlicher: Wie viel Expertentum verträgt eine liberale Demokratie? Politiker müssen immer mehr Entscheidungen auf der Grundlage von Kompetenzen treffen, die sie selber nicht haben, sondern an Experten delegieren. Schon vor über vierzig Jahren sprach der streitbare Philosoph und Theologe Ivan Illich von der «Entmündigung durch Experten». Er warnte vor der «behaglichen Gleichgültigkeit der Bürger, die sich als Klientel dieser Experten einer vielgestaltigen Sklaverei unterwerfen».
Nun wird die Politik zweifellos immer abhängiger von Ausschüssen, Stäben, Task Forces, deren Strukturen sich vielfach einer demokratischen Kontrolle entziehen. Zudem spielt hier so etwas wie eine gegenseitige Verführung hinein: Wenn Politiker ihre Entscheidungen auf wissenschaftliche Basis stellen, dann können sie sich dabei verleitet fühlen, auch einen Teil ihrer Verantwortung an die Wissenschafter zu delegieren; was wiederum diese verleiten kann, unter dem Mantel der Expertise Verfügungsgewalt auszuüben, ohne dafür zur Verantwortung gezogen zu werden.
«Facts of the matter»
Der neuzeitlichen Wissenschaft verdanken wir die oberste erkenntnistheoretische Norm, dass unser Wissen in der kollektiven Erfahrung verankert sein soll: in den «facts of the matter». Diese liegen aber nicht unmittelbar vor unseren Augen. Sie benötigen autoritative (nicht autoritäre!) Vermittler, in der Wissenschaft, in den Medien. Alles, was wir über die Welt wissen – abgesehen von der eigenen Erfahrung –, wissen wir aus zweiter Hand. Wenn wir fragen: «Sind das wirklich ‹facts of the matter›?», dann meinen wir: «Können wir der erkenntnistheoretischen Autorität der Experten vertrauen, die sie vermitteln?». Dem Evolutionsbiologen über das Artensterben; dem Klimatologen über den anthropogenen Klimawandel; dem Virologen über die Wirkung von mRNA-Impfstoffen; dem Gesundheitsstatistiker über die Sterblichkeitsrate in Ländern der Dritten Welt. Mein Wissen ist also im Grunde ein Vertrauen. Ein kritisches Vertrauen wohlgemerkt.
«Die glücklich abhanden gekommene Welt»
Richard Rorty, der amerikanische Vordenker der Postmoderne, prägte vor über fünfzig Jahren den Begriff der «glücklich abhanden gekommenen Welt» («The World Well Lost»). Rorty leugnete damit, dass wir zur Schlichtung von Meinungsunterschieden an so etwas wie eine einzige verbindliche Weltsicht appellieren können: an eine Schiedsinstanz, die sagt: «So tickt die Welt». Vielmehr würden solche Unterschiede in demokratischen Institutionen und Verfahren ausgesöhnt. Rorty glaubte an die Fähigkeit liberaler demokratischer Politik, Toleranz und Meinungsvielfalt zu fördern. «Die Aufgabe des Politischen (…) besteht (…) eher im Tolerieren alternativer Fantasien als in der Abschaffung der Fantasie zugunsten der Wahrheit.» «Ein demokratisches Utopia wäre eine Gemeinschaft, in der nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern Toleranz und Neugier als intellektuelle Kardinaltugenden gelten.»
Krise der offenen Gesellschaft
Nun ist uns freilich die Welt eher unglücklich abhandengekommen. Heute haben wir es weniger mit alternativen Fantasien zu tun als mit alternativen Fakten. Abhandengekommen ist die Idee der Objektivität als einer universellen erkenntnistheoretischen Norm, an der wir uns orientieren, wenn es um «facts of the matter» geht. Es gibt im Zeitalter des Internets nicht die Welt, es gibt das Weltenmosaik unzähliger Netzstämme. Und Toleranz ist nicht ihre Stärke.
Diese Zersplitterung ist die angesprochene Krise der erkenntnistheoretischen Autorität. Sie bedeutet auch eine Krise der offenen Gesellschaft. Eine solche Gesellschaft ist nicht offen, wenn sie die Idee der Objektivität verabschiedet, das heisst eine Instanz, an die man appelieren kann, um Meinungsdifferenzen zu schlichten. In ihr kann durchaus jeder auf seine Fasson selig werden, aber unter der Bedingung, dass er sich an verpflichtende Debattiernormen hält, die ihn mit der Realität konfrontieren – mit etwas also, das ihn gegebenenfalls nötigt, die Meinung zu ändern. Das ist der «Zwang» des Faktischen. Er wird nicht von einer einzigen Erkenntnisautorität wie der Wissenschaft ausgeübt, er beruht auf dem Einvernehmen der Bürgerinnen und Bürger über einen Minimalbestand an robustem Wissen und an Diskursregeln.
Eine Agora aus Fachleuten und Laien
Das heisst, wir brauchen eine Agora, in der sich Fachleute und Laien austauschen. Man kann Rorty durchaus zustimmen, wenn er Fantasie und Meinungsvielfalt als Mittel gegen die Denkverkalkung empfiehlt; also gegen die Neigung, die Welt nur aus einer einzigen Perspektive zu verstehen. Aber demokratische Debatten und Entscheidungen benötigen faktischen Boden unter den Füssen.
Und hier sind andere «intellektuelle Kardinaltugenden» gefragt. Zum Beispiel das Überwinden des Ingroup-Outgroup-Bias, das heisst der Neigung, nur gleichen Meinungen Glauben zu schenken; das Vermeiden von vorschnellen Verallgemeinerungen; das Ersetzen von moralisierenden Schuldfragen durch empirische Ursachenfragen; die Skepsis gegenüber patenten Problemlösungen; der intellektuelle Anstand, das heisst, der Kritik des Anderen ein Argument und nicht eine Invektive zu schulden.
Entscheidend ist, dass wir solche Tugenden nicht im virtuellen, sondern im realen Gespräch unter Menschen aus Fleisch und Blut kultivieren. Die angesprochene Agora erweist sich letztlich als die Autorität, die eine gemeinsame Welt verbürgt. Ihr Boden erodiert. Sie ist deshalb das vordringlichste erkenntnispolitische Ziel, wenn uns denn die Zukunft der Demokratie am Herzen liegt.