Dass der Embryo zu Beginn seines Lebens noch kein Mensch ist, scheint das Dogma vieler Befürworter der Präimplantationsdiagnostik (PID) zu sein.
Für dieses Dogma gibt es jedoch keine reale Grundlage. Ein Haufen bedeutet, dass die einzelnen Elemente in beliebiger Nachbarschaft liegen und ausgetauscht werden können. Im Gegensatz dazu bilden die Zellen des Embryos eine organische Einheit. Sie kommunizieren miteinander und teilen sich schon sehr früh die Aufgaben, die zu regionalen Differenzierungsunterschieden führen. Sie bilden ein hochkomplexes, aber einheitliches System von Interaktionen, wie molekular- und zellbiologische Untersuchungen gezeigt haben. Dieses komplexe System ist umgeben von einer schützenden Hülle, die die Einheit des Embryos gewährleistet. Entfernt man diese Hülle, dann zerstört man die Einheit des Embryos. Unter biologischen Gesichtspunkten gibt es also keinen Grund, den Embryo als einen Zellhaufen zu bezeichnen.
Unter logischen Gesichtspunkten beinhaltet dieses Dogma einen inneren Widerspruch. Wie soll aus einem Nicht-Menschen (Zellhaufen) ein Mensch werden, wenn nicht schon in der befruchteten Eizelle alle Potentialitäten vorhanden sind, die von sich aus die Entfaltung des Menschen herbei führen? Die Rede vom Zellhaufen ist also durch nichts begründet. Trotzdem wird sie zur Grundlage einer Gesetzgebung gemacht, welche das Töten von vielen Menschen erlaubt.
Die Verfassungsänderung, über die am 14. Juni abgestimmt wird, soll die Voraussetzungen schaffen für die Änderung des Fortpflanzungsmedizingesetzes, welches die Anwendung der PID regelt. Gemäß diesem Gesetz dürfen bis zu 12 Embryonen generiert werden. Ferner wird die Anwendung der PID nicht mehr auf Eltern eingeschränkt, bei denen die Gefahr einer schweren Erbkrankheit besteht, sondern steht grundsätzlich allen Eltern offen. Die vielberufene Einschränkung der Zahl der hergestellten Embryonen auf 12 durch den Ständerat ist dabei ethisch nicht mehr relevant, weil die bisher von der Verfassung (Art.119 2 c) festgelegte Verpflichtung außer Kraft gesetzt wird, nämlich alle entwickelten Embryonen einzupflanzen.
Was geschieht, wenn alle zwölf Embryonen gesund sind und nur einer oder zwei eingepflanzt werden? Auf diese Frage gab Herr Berset in der Arena keine Antwort. Darauf gibt es auch nur eine Antwort: Diese Embryonen, diese Kinder, werden schlussendlich getötet. Mit dem ideologischen Apriori, dass diese Embryonen noch keine Menschen sind, wäre das auch zugunsten höherer Werte zu ertragen, nicht aber, wenn es sich um Menschen handelt, die ein Recht auf Leben haben. Herr Berset argumentierte in der Arena, dass die Verfassungsänderung und die Änderung des Gesetzes keine Pflicht zur PID bedeute, sondern die Entscheidung den Eltern überlasse. Das klingt zunächst liberal. In Wirklichkeit wird damit das Töten der Embryonen vom Staat her erlaubt. Wäre es aber nicht die vornehmste Pflicht des Staates, das Leben der Menschen und damit auch der Embryonen zu schützen (Art. 10 der Verfassung)?
Die Geschichte der Gesetzgebung in der Fortpflanzungsmedizin ist eine Geschichte der Dammbrüche. Die Bedingung, dass „nur so viele menschliche Eizellen außerhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden, als ihr sofort eingepflanzt werden können“ (Art.119 2 c), wurde in die Verfassung geschrieben, um die Zustimmung des Volkes zur In-vitro-Fertilisation zu erhalten. Mit strengen Leitplanken für das Einhalten dieser Bestimmung sollte das Fortpflanzungsmedizingesetz sorgen. Doch schon in der Arena vom 12.11.2004 (Debatte über die Forschung an embryonalen Stammzellen) wurde öffentlich und in der Gegenwart von Bundesrat Couchepin mitgeteilt, dass es in gynäkologisch-geburtshilflichen Kliniken üblich sei, bis zu sechs Embryonen zu entwickeln. Die Forschung an embryonalen Stammzellen sollte ebenfalls nur unter stark restriktiven Bedingungen erlaubt sein. Doch schon am Abend des Abstimmungstages, an dem das Volk der embryonalen Stammzellforschung zugestimmt hatte, verkündete Felix Gutzwiller weitere Schritte der „Liberalisierung“.
Im Vorfeld der jetzigen Debatte hat die nationale Ethikkommission bereits die Eizellen- und Embryonenspende sowie die Leihmutterschaft befürwortet, die bisher in der Verfassung (Art. 119 2 d; Fortpflanzungsmedizingesetz Art. 4) verboten sind. In der Parlamentsdebatte wurden weitere Vorstöße unternommen, wie z.B. die Erzeugung von Retterbabies zuzulassen. Zwar wird immer wieder betont, man wolle streng auf die Einhaltung der Gesetze achten, aber die schiefe Ebene (slippery slope) ist schon längst beschritten und ein Ende ist nicht abzusehen. Nur wenn der Embryo als Mensch anerkannt und sein Recht auf Leben geschützt wird, können wir wieder zu einer Gesellschaft werden, wie sie die Verfassung beschreibt und vorschreibt. Viele Interessen werden durch die geplante Verfassungsänderung und Gesetzgebung berücksichtigt. Die Interessen des Hauptbetroffenen, nämlich des Kindes, werden nicht beachtet. Es wäre höchste Zeit, dass der Staat auch die Rechte der wehrlosen Kinder vertritt. Dazu gehört in erster Linie das Recht auf Leben.