Neun chinesische Kriegsschiffe und 58 militärische Flugzeuge nahmen am Sonntag (9.4.) an Militärmanövern rund um Taiwan teil – mit dem von Peking offen deklarierten Ziel, «Präzisionsschläge mit mehreren Zielen» zu üben. Die Manöver würden noch einen Tag länger durchgeführt, kündigte die militärische Führung in Peking an – und dann?
Ja dann, so nahmen die politisch Verantwortlichen in Taipeh zumindest an, werde es wohl wieder eine Rückkehr zum Courant normal geben.
Was heisst Courant normal? Höchst wahrscheinlich Fortsetzung des Spiels mit dem Feuer, das nun schon seit rund einem Jahr von verschiedenen Seiten betrieben wird. Seither statten US-amerikanische Politiker und Politikerinnen der Führung in Taipeh Besuche ab, deren Zweck darin besteht, dem Regime von Xi Jinping zu zeigen, dass Washington sich im Falle eines Falls, also eines militärischen Angriffs Chinas auf Taiwan, engagieren würde. Die Präsidentin Taiwans ihrerseits reist in die USA, wird dort zwar nicht vom Präsidenten empfangen, aber doch vom Speaker des Repräsentantenhauses, nominell der hierarchisch drittwichtigsten Persönlichkeit in der US-Machtpyramide. Xi Jinping verkündet oder lässt durch seine Entourage verkünden, dass sein China an der so genannten Ein-China-Theorie festhalte, was konkret bedeutet, dass die Insel Taiwan über kurz oder lang in den Machtbereich Pekings integriert werde. Wenn möglich mit friedlichen Mitteln, wenn nötig eben anders.
Anschluss
Friedlich heisst: Die 23 Millionen Menschen Taiwans sollten sich einverstanden erklären, Bürgerinnen und Bürger (Untertanen?) Chinas zu werden. Xi Jinping verspricht, er würde die eigenständige politische Kultur, also die Demokratie, Taiwans auch bei einer solchen Integration (nüchtern sollten wir wohl von Anschluss sprechen) respektieren. Das versprach er (respektive versprachen seine Vorgänger) auch schon den Bewohnern von Hongkong, negatives Resultat nur zu gut bekannt. Die USA ihrerseits verkünden, mitten im Dröhnen des Säbelrasselns, dass sie die Lieferung von Rüstung für Taiwan um weitere 619 Millionen Dollar erhöhen.
Halt, sichern, rufen politisch Verantwortliche in Europa (allerdings fast tonlos) den Feuerwerkern zu – Frankreichs Präsident Macron reiste (begleitet u. a. von der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen) für zwei Tage nach Peking und warb um Mässigung (parallel dazu allerdings auch um noch mehr Handelsabkommen etwa zugunsten des Konzerns Airbus). «Le Monde» kommentierte am Samstag, der Besuch sei nützlich gewesen, auch wenn er zu keinen konkreten Resultaten geführt habe. Die EU-Kommissionspräsidentin zog es vor, Chinas Führung wegen der Verletzung von Menschenrechten anzumahnen – mit dem erwartbaren Resultat, dass sie im raffiniert durchdachten chinesischen Protokoll immer etwas an den Rand geschoben wurde.
Auf Gedeih und Verderb
Das kann allerdings nicht darüber hinweg täuschen, dass die Länder der Europäischen Union für China hinsichtlich Handel und Investitionen unverzichtbar bleiben – bis Ende 2022 erreichte der Kapitalbestand von Direktinvestitionen aus China in der EU 439,6 Milliarden US-Dollar. Der Handelsaustausch stieg 2022 auf 690 Milliarden (154 Milliarden Export, 536 Milliarden Import). Was konkret, in Kurzform, bedeutet: Die beiden Bereiche, Europa und China, bleiben fast auf Gedeih und Verderb, aneinander gebunden.
Aneinander gebunden bleiben, aus der wirtschaftlichen Perspektive, aber auch Europa und Taiwan, ja sogar China und Taiwan. Der kleine Inselstaat hat es zustande gebracht, eine global unverzichtbare Industrie für Computer-Chips aufzubauen – taiwanesische Unternehmen produzieren weltweit mehr als 60 Prozent aller Halbleiter, und würden diese Chips Mangelware oder gar für einige Zeit ausfallen, hätte die gesamte Industrie in Europa, in den USA, aber auch in China selbst, gewaltige Probleme.
Ein-China-Politik
Also, sollte es doch eigentlich der gesunde Menschenverstand gebieten, dass zwischen Festland-China und Taiwan kein Krieg ausbricht. Ja, gewiss, sollte – nur hat die internationale Politik schon vor Jahrzehnten dafür gesorgt, dass das China-Taiwan-Problem ungelöst respektive explosiv bleibt.
Wie? Alle Fragen führen zurück auf die so genannte Ein-China-Politik. Sie besagt, dass Regierungen sich entscheiden müssen, entweder Peking-China oder Taiwan anzuerkennen. Chinas Kommunisten gewannen auf dem Festland 1949 den Bürgerkrieg, die besiegten Gegner zogen mit ca. 1,2 Millionen Menschen auf die Insel Taiwan (die damals gut acht Millionen Einwohner hatte). Fortan gab es eine Pekinger Regierung, Volksrepublik China, und eine Taiwaner, Republik China. Die Staaten unter kommunistischer oder pro-kommunistischer Herrschaft, vor allem in Osteuropa, aber auch in der Dritten Welt, anerkannten die Volksrepublik, die westlichen generell die Republik, also Taiwan. In der Uno vertrat die Republik, mit ihren damals im Durchschnitt nicht mehr als zehn Millionen Menschen, ganz China – die Volksrepublik (mit damals bald schon einer Milliarde Menschen) blieb abseits.
Bahnbrechende Schweiz
Im Verlauf der folgenden Jahre und Jahrzehnte wurde allerdings klar: Dieses Missverhältnis entspricht nicht den Realitäten. Also entschlossen sich mehr und mehr auch westliche Länder, die diplomatischen Beziehungen zu Taipeh, der Hauptstadt Taiwans, abzubrechen, und stattdessen Peking anzuerkennen. Die Schweiz war innerhalb Europas bahnbrechend: Sie vollzog den Wandel schon 1950. Im gleichen Jahr vollzog Grossbritannien diesen Schritt, danach kam Frankreich 1964. Die USA wechselten erst 1979 – Richard Nixon, damals US-Präsident, besuchte Peking allerdings (auf Geheiss von Henry Kissinger) schon 1972.
Danach verstrickten sich die USA, selbst deklarierte Schutzmacht Taiwans auch nach dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen, ständig in Widersprüche. In einem so genannten Taiwan Relations Act (1979) sicherte Washington Taiwan «Schutz vor militärischen Übergriffen» zu. 1982 gab es eine gemeinsame Erklärung der USA und Chinas, in der erwähnt wurde, dass die USA die Waffenlieferungen an Taiwan schrittweise reduzieren würden.
In Widersprüche verstrickt
Die verschiedenen US-Präsidenten der Folgejahre definierten immer neue Details der Verpflichtungen gegenüber Taiwan, aber oft verstrickten sie sich in Widersprüche. Im Februar 2017 akzeptierte der damalige US-Präsident, Donald Trump, in einem Telefonat mit Xi Jinping die Ein-China-Politik. Als Joe Biden das Amt übernahm, bekräftigte er die Unterstützung für Taiwan als «felsenfest», aber er sagte im gleichen Atemzug, dass die USA an der Ein-China-Politik festhalte. Biden verstrickte sich danach in weitere Unklarheiten – würden die USA Taiwan im Konfliktfall nur mit Waffen helfen oder würden sie auch selbst, mit eigenen Truppen, eingreifen?
Solche Unklarheiten sind es, welche die labile Situation um Taiwan noch weiter zuspitzen – droht da ein militärischer Konflikt, noch viel katastrophaler als der gegenwärtige um die Ukraine? Xi Jinping, Alleinherrscher in Peking, droht – Joe Biden, US-Präsident, droht versteckt und widerspruchsvoll ebenfalls. Europäische Politiker wie Emanuel Macron suchen, enerviert, nach einem Friedenszweig.
Wo der aufzufinden ist, bleibt unklar. Und während die Tage ins Land gehen und die chinesischen Kriegsschiffe und Flugzeuge rund um Taiwan kreisen, schwelt das Feuer eines global verheerenden Konflikts.