Wer sich nicht zu den Jusos, der Alt-Orthodoxie oder zum Klerus der Partei zählt, versteht die linke Welt nicht mehr. In den vergangenen Jahren hat die SP praktisch bei allen kantonalen Wahlen verloren – mal wenig, meist deutlich. Die realen Verhältnisse bewegten sich rascher, als die linken Politiker und Politikerinnen auf die Veränderungen reagieren konnten. Eingeholt bzw. überholt von den Ereignissen, standen sie oft neben den Schuhen.
Vom SVP-Virus befallen
Dass Sozialdemokraten Werte, Grundhaltungen oder Prinzipien wie Gerechtigkeit, Solidarität, Chancengleichheit hochhalten, spricht für sie. Doch Politik erschöpft sich nicht darin, mit wehenden den Durchmarsch zu proben. Politik, die den (benachteiligten) Menschen etwas bringen soll, ist Arbeit im Unterholz, ist die mühsame Suche nach Mehrheiten und Kompromissen. Dieser Arbeit scheinen die Sozialdemokraten überdrüssig. Man konnte es in der unlängst zu Ende gegangenen Herbstsession verfolgen:
Der 11. AHV-Revision, die einen Schritt hin zur finanziellen Abfederung von Frührentnern gebracht hätte, zeigte die SP die kalte Schulter.
Das Mietrecht, das die Stellung der Mieter gestärkt hätte, wurde dank welscher SP-Unterstützung ebenfalls bachab geschickt.
Vergleichsweise harmlose Massnahmen zur Senkung der Gesundheitskosten wurden mit Hilfe der SP ebenfalls versenkt.
Auffallend bei diesen Versenkungen war, dass die SP ausgerechnet mit der SVP zusammenspannte. Die beiden ungleichen Akteure legten sich, zwar Rücken an Rücken, ins gleiche Bett und posaunten ihre Dogmen in die Welt hinaus. Bei der AHV-Vorlage etwa tönte es nach links: „Mehr Geld für die Frührentner“, und nach rechts: „Sparen und nur Sparen“. Es macht den Anschein, dass sich der SVP-Virus mittlerweile auf die SP übertragen hat: Man will alles oder nichts!
Derselbe Dogmatismus manifestiert sich bei den Parolen zu den Ausschaffungsvorlagen, über die am 28. November abgestimmt wird. Die SP weiss, dass die SVP-Initiative, obwohl völkerrechtswidrig und schludrig formuliert, grosse Chancen hat. Und sie weiss, dass ihr nur mit dem gemässigteren Gegenvorschlag, für den auch ihre neue Bundesrätin Sommaruga eintritt, Paroli geboten werden kann. Und dennoch sagt sie nein, weil dieser Gegenvorschlag dem Gedankengut der Partei angeblich nicht entspricht. Das ist ein gefährliches Spiel.
Den Kapitalismus überwinden – aber wie?
Doch die SP Schweiz, über den tagespolitischen Dingen schwebend, hat noch weit Höheres im Sinn. Sie will die Armee abschaffen. Man begreift nicht recht, weshalb sie gerade diese Front eröffnet. Wie die gesellschaftliche Entwicklung die einst dominante Stellung der Kirche auf ein vernünftiges Mass reduzierte, so reduziert sich heute die Armee fast von selbst. Sicherheitspolitik ist damit nicht passé. Schreibt die SP die Armee aber generell ab, wird sie in den sicherheitspolitischen Debatten an Gewicht verlieren.
Die zweite Kirsche, die die Partei pflücken möchte, hängt noch höher: die Überwindung des Kapitalismus. Da ist man nun wirklich gespannt, wie sie die Leiter in den Baum stellen wird. In der Finanz- und Bankenkrise, die noch lange nicht ausgestanden ist, hat der Kapitalismus seine Schwächen allen überdeutlich offenbart. Wie verhielt sich die SP Schweiz in dieser Phase? Was hatte sie zu bieten? Sie war, sehr verständlich, empört. Sie protestierte. Sie surfte (auch hier: wie die SVP) auf den Wellen, die Thomas Minders Abzockerinitiaitve warf. Sie widersetzte sich dem UBS-Vertrag mit den Vereinigten Staaten. Aber hat jemand etwas von einem eigenen und kohärenten Gegenkonzept gehört? In den 80er Jahren hatte sie mit der Banken-Initiative ein solches Konzept präsentiert – und war massiv abgestraft worden. Heute, da vielen die Augen geöffnet sind, steht sie mit leeren Händen da. Die von den Jusos lancierte „l zu 12“-Initiative (ein Manager soll nicht mehr als 12mal mehr verdienen als die unterste Charge) kann wohl kaum als ernsthafte Gegenposition in Betracht fallen.
Natürlich hat Parteipräsident Christian Levrat recht, wenn er die extrem ungleiche Verteilung der Vermögen in unserem Land anprangert. Mit einer eidgenössischen Erbschaftssteuer könnte dieser Zustand zumindest korrigiert werden. Nur, es ist die Evangelische Volkspartei, die eine solche Initiative im Köcher hat. Abgesehen davon müsste der SP zur Überwindung des Kapitalismus noch einiges mehr einfallen.
Die Sozialdemokraten haben nun ihr neues Programm mit Utopien, Dogmen, Verheissungen. Vielleicht brauchen sie das. Aber die Schweiz braucht auch sie. Diese Partei ist zu wichtig im innenpolitischen Gefüge, als dass sie sich mit dogmatischen Eskapaden selber aus dem Spiel nimmt. Deshalb sollte sie wieder ein paar Sprossen herunter steigen - auf den Boden der Realität. Sonst muss man sich wirklich fragen: Wer soll noch SP wählen?