Das Memorandum „Kirche 2011“ geht tiefer und ist umfassender. Noch immer geschockt durch die Enthüllungen über die Missbrauchsfälle der vergangenen Jahre, fragen die besorgten Theologinnen und Theologen nach den Ursachen dieser Vergehen: und zwar nicht nur nach den individuell-lebensgeschichtlichen einzelner Geistlicher, sondern vor allem nach den strukturellen, die die Skandale und deren jahrelange Vertuschung überhaupt erst möglich gemacht haben. Dabei kommen sie zu Ergebnissen, die zwar weitgehend bekannt sind, aber schon lange nicht mehr so konzentriert und differenziert dargelegt wurden.
Im Wissen, dass man ihnen von offizieller Seite bald einmal vorwerfen wird, nicht mehr katholisch zu sein, berufen sich die Verfasser des Memorandums explizit auf die Botschaft des Evangeliums und auf den Geist des Zweiten Vatikanischen Konzils und leiten daraus die folgenden Forderungen ab:
1.mehr synodale Strukturen auf allen Ebenen der Kirche
2.Mitverantwortung der Gläubigen und Amtsträger, auch verheiratete Männer, auch Frauen, die der Gemeinde dienen, nicht umgekehrt.
3.eine Rechtskultur, die allen, auch den Laien, offen steht
4.Gewissensfreiheit und die Anerkennung individueller Lebensformen, die auch gleichgeschlechtliche Partnerschaft und wiederverheiratete Geschiedene mit einschliesst.
5.Versöhnung und Abkehr vom selbstgerechten moralischen Rigorismus der Amtsträger.
6.Lebendige Gottesdienste, die nicht in Traditionalismus erstarren.
Diese Forderungen, die weder neu noch besonders radikal, dafür umso dringender sind, treffen die Institution in ihrer Substanz. Entsprechend wurde von offizieller Seite alles unternommen, das Memorandum entweder zu bagatellisieren oder aber zu diskreditieren.
Vergiftetes Klima im Bistum Chur
Dabei bräuchte man, in der Schweiz zumindest, nur nach Chur zu schauen, wo nun schon zum zweiten Mal seit dem sog. Fall Haas Zustände herrschen, die dem Memorandum auf der ganzen Linie recht geben.
Deutliche Anzeichen dafür, wie vergiftet das Klima im Bistum ist und wie zerrüttet das Verhältnis zwischen dem Bischof und seiner Diözese, sind die kurz hintereinander erfolgten Rücktritte von Ernst Fuchs, dem Regens des Priesterseminars, sowie von Andreas Rellstab, dem Generalvikar für Graubünden.
Beide, so heisst es, seien einer bevorstehenden Kündigung durch den Bischof zuvor gekommen. Beide nennen als Begründung für ihren Rücktritt übereinstimmend den intransparenten Führungsstil des Bischofs, den bedenklichen Umgang mit Denunziationen, die Unterdrückung anderer Ansichten, Meinungsverschiedenheiten bei der Auswahl von Priesteramtskandidaten sowie allgemeine Kommunikationsverweigerung.
Die beiden verbleibenden Dekane, Josef Annen und Martin Kopp, schlossen sich in ihrer Stellungnahme dieser Diagnose an und beklagten, dass mit Ernst Fuchs und Andreas Rellstab „zwei unserer besten Leute in kurzer Zeit verheizt“ worden seien.
Diese Personalie ist indes nur eine weitere Eskalation des Streits, der im Bistum Chur schon des längeren schwelt. Von Beginn an hatte Bischof Vitus Huonder es verstanden, den Klerus zu verärgern und das Kirchenvolk zu verunsichern. Laientheologinnen und –theologen, die Gemeinden leiten und in Wortgottesdiensten predigen, sind ihm ein Dorn im Auge. Im Priesterseminar sorgt er für Aufruhr, indem er ultrakonservative Kandidaten bevorzugt, die sich weigern, anders als nach tridentinischem Ritus die Messe zu lesen.
Die Abberufung von Bischof Huonder verlangt
Mit der Ankündigung, Martin Grichting als Weihbischof nach Zürich zu entsenden, bringt er die Gemüter der Zürcher Katholikinnen und Katholiken in Wallung. Denn sie wissen genau, was ihnen mit der Ernennung eines Mannes blüht, der das demokratische System der Kantonalkirchen gerne als „Gegenkirche“ bezeichnet und nicht müde wird, für die Abschaffung die weltweit einzigartigen dualen Strukturen der Schweiz zu plädieren.
Einen Weihbischof Grichting wird es in nächster Zeit zwar nicht geben. Er hat unter dem Druck aus Zürich das Handtuch geworden. Doch wie steht es mit den anderen Missständen? Und wie sind sie zu beheben? Erinnerungen an die Aera Haas werden wach. Damals hatten monatelange, zum Teil heftige Protestaktionen, Boykotte und die Einbehaltung der Kirchensteuer schliesslich dazu geführt, dass Bundesrat Cotti im Namen der Landesregierung beim Nuntius interveniert und diesem dargelegt hatte, dass der Religionsfrieden in unserem Land gestört würde, sollte Bischof Wolfgang weiter im Amt bleiben. Rom gab schliesslich nach und schob den missliebigen Oberhirten in seine Heimat Lichtenstein ab, wo er als Erzbischof von Vaduz seinen rigiden Kurs weiter verfolgen kann.
An diesem Beispiel orientiert sich jetzt auch die Vereinigung der Kantonalkirchen des Bistums Chur, die sog. Biberbrugger Konferenz, wenn sie verlangt, dass die Landesregierung in Rom vorstellig werden und um die Abberufung des Churer Bischofs Vitus Huonder bitten solle. Ob dieses Vorgehen zum gewünschten Erfolg führen kann, ist eine andere Frage.
Rom ist Teil des Problems und nicht dessen Lösung
Rückhalt von Seiten der Bischofskonferenz geniesst das Vorpreschen der Biberbrugger Konferenz jedenfalls schon mal nicht. Man sei besorgt über die Situation, liessen die Bischöfe Anfang März die Öffentlichkeit wissen, wünsche jedoch, dass das „Powerplay in den Medien“ ein Ende habe.
Aber auch ein ausgewiesener Kenner der Szene wie der Tübinger Professor Hans Küng hat Zweifel, dass sich mit einer staatlichen Intervention in Rom etwas erreichen lässt, und er glaubt auch nicht daran, dass ein Besuch Huonders in Rom etwas zur Lösung des Konflikts beitragen könnte. Denn Rom ist Teil des Problems und nicht dessen Lösung. Deshalb rät Küng dazu, dem Bischof, wie seinerzeit im Fall Haas, die Finanzen zu sperren, warnt aber gleichzeitig davor, mit einem schnellen Erfolg zu rechnen.
Dass bei Konflikten vom Bischof bis hinunter zu den Kirchgemeinden Rat und Hilfe in Rom gesucht wird, ist gute katholische Tradition. Auch das Memorandum „Kirche 2011“, das sich als Fanal zum Aufbruch versteht und mit Blick auf den bevorstehenden Papstbesuch in Deutschland geschrieben wurde, ist im Grunde an die Adresse Roms gerichtet. Auch die Unterzeichnenden dieses Aufrufs erwarten sich Abhilfe ausgerechnet von jener Instanz, welche die wortreich beklagte Krise der katholischen Kirche verursacht hat. Denn hinter fast allen innerkirchlichen Konflikten, personellen ebenso wie strukturellen, verbirgt sich letztlich der immer gleiche Grundkonflikt: derjenige zwischen zwei diametral entgegengesetzten Kirchenbildern, einem synodal strukturierten, partnerschaftlichen auf der einen Seite, einem hierarchisch gegliederten, autoritären auf der andern.
Rückkehr zu vorkonzilären Verhältnissen
Eine Annäherung zwischen den beiden Modellen ist bis heute kaum auszumachen. Im Gegenteil: Während es nach dem Aufbruch des Zweiten Vaticanums eine zeitlang danach ausgesehen hatte, als würden Dialog, Kritikbereitschaft und Offenheit gegenüber den Erfordernissen der Zeit auch innerhalb der Institution Fuss fassen, so lässt sich nun schon seit vielen Jahren eine Tendenz zur Rückkehr zu vorkonziliären Verhältnissen beobachten. Eklatantestes Beispiel: die Versöhnung mit der Pius-Bruderschaft und die Wiederzulassung des tridentinischen Ritus.
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich grundsätzlich die Frage, ob die katholische Kirche überhaupt reformierbar sei oder nicht. Mit Aufrufen, und seien sie noch so fundiert und berechtigt, wird eine tiefgreifende Veränderung zweifellos nicht zu erreichen sein. Und auch mit der Abberufung eines missliebigen Bischofs ist es nicht getan. Was es bräuchte, wäre eine Reformation, wie sie Luther zu Beginn des 16. Jahrhunderts in die Wege geleitet hatte. Dass es damit zu einer weiteren Spaltung, wenn nicht gar zu Spaltungen käme, müsste in Kauf genommen werden. Doch solange Rom in den Köpfen auch kritischer Katholikinnen und Katholiken noch immer fest verankert ist und die Lösung aller Probleme noch immer von dort erwartet wird, solange wird sich in der katholischen Kirche nichts ändern. Denn Revolutionen gehen in der Regel nicht von oben aus, und sie werden auch nicht von Menschen angezettelt, die das herrschende System so weitgehend internalisiert haben, wie dies bei vielen, auch unzufriedenen Katholiken noch immer der Fall ist.
Um den Stein ins Rollen zu bringen, braucht es Menschen, die sich frei gemacht haben und den Machtapparat aus innerer Unabhängigkeit heraus in Frage stellen. Solche zum Beispiel wie der Pfarrer von Affoltern a.A., der unlängst den Hut nahm, weil er Vater geworden war und seinem Kind nicht ein Leben lang vormachen wollte, er sei der Götti. Für ihn ist in der katholischen Kirche, so wie sie heute verfasst ist, kein Platz. Ganz im Gegensatz zu jenem Geistlichen aus Wollerau, der seine Gemeinde ebenfalls mit der Mitteilung überraschte, dass er einen Sohn habe. Weil er sich jedoch gegen ein Zusammenleben mit Frau und Kind entschied, durfte er Priesteramt und katholische Lehrbefugnis behalten. Zwei kleine Vorfälle nur unter vielen. Aber wie morsch und verlogen muss ein System sein, das solche Ungleichbehandlung zulässt!