Die nationale Fernsehdebatte mit Donald Trump war für Joe Biden nicht der erhoffte Befreiungsschlag. Im Gegenteil – der US-Präsident wirkte im CNN-Studio in Atlanta blass und kraftlos. Der Ex-Präsident dagegen konnte fast ungehindert lügen.
Amerikas politische Kommentatoren, mit Ausnahme von Anhängern Donald Trumps, waren sich zur Abwechslung danach fast alle einig: Was am Donnerstagabend während 90 unendlich langen Minuten, unterbrochen von zwei Werbeblöcken, in Atlanta über die Bühne ging, war die schlechteste Fernsehdebatte zwischen zwei Präsidentschaftskandidaten, seit 1960 ein nervöser, schwitzender Richard Nixon und ein cooler, abgeklärter John F. Kennedy zum ersten Mal vor Kameras die Klingen gekreuzt hatten.
«Joe Biden ist ein guter Mensch und ein guter Präsident», schrieb etwa in der «New York Times» Thomas F. Friedman, wiederholt im Weissen Haus zu Gast: «Er muss das Rennen aufgeben.» Falls er das tut, würden Amerikanerinnen und Amerikaner Joe Biden dafür loben, etwas zu tun, was Donald Trump nie tun würde: etwas für das Land statt für sich selbst zu machen.
Eine verpasste Gelegenheit
«Er tut das Beste, was er tun kann», sagte auf CNN sichtlich betroffen der demokratische Stratege Van Jones: «Heute Nacht aber hatte er eine Prüfung zu bestehen, um das Vertrauen des Landes und seiner Basis wiederherzustellen, und das ist ihm nicht gelungen.» An der Partei liege es nun, einen neuen Weg vorwärts zu finden. Kein Wunder, sprossen in der Folge Spekulationen ins Kraut, wer innerhalb seiner Partei Joe Biden überzeugen könnte, seine Kandidatur aufzugeben. Barack Obama? Hillary Clinton? Kamala Harris? Oder führende Demokraten im Kongress? Prominente Geldgeber?
«Er (Biden) verbrachte die meiste Zeit des Abends mit offenem Mund und hin- und herflitzenden Augen», sagte auf dem liberalen Fernsehkanal MSNBC Moderator Joe Scarborough, ein loyaler Anhänger des Präsidenten. «Er konnte nichts von dem, was Donald Trump sagte, auf seine Richtigkeit überprüfen. Er verpasste einen Aufschlag nach dem anderen.»
Kritische «New York Times»
Selbst die Leitartikler der «New York Times» rieten Joe Biden, sich aus dem Rennen um den Einzug ins Weisse Haus zurückzuziehen: «Der grösste öffentliche Dienst, den Mr. Biden jetzt leisten kann, ist die Ankündigung, dass er nicht mehr für die Wiederwahl kandidieren wird. So wie es aussieht, hat sich der Präsident auf ein leichtsinniges Glücksspiel eingelassen. Es gibt demokratische Führungspersönlichkeiten, die besser in der Lage sind, klare, überzeugende und energische Alternativen zu einer zweiten Trump-Präsidentschaft zu präsentieren. Es gibt keinen Grund für die Partei, die Stabilität und Sicherheit des Landes zu riskieren, indem sie die Wähler zwingt, sich zwischen den Unzulänglichkeiten von Mr. Trump und von Mr. Biden zu entscheiden. Es ist eine zu grosse Wette, einfach zu hoffen, dass die Amerikanerinnen und Amerikaner das Alter und die Gebrechen von Mr. Biden übersehen oder ignorieren.» Sollte der Präsident 2024 Kandidat bleiben, würde ihn das Blatt aber weiterhin unterstützen.
Kurzfristige Auferstehung
Jill Biden sah das kurz nach der Debatte ganz anders. «Joe, du hast so einen tollen Job gemacht!», lobte sie an einer Watch Party in Atlanta ihren Gatten: «Du hast alle Fragen beantwortet! Du hast alle Fakten gekannt!» Der Präsident selbst wirkte am Tag nach dem desaströsen Auftritt in Atlanta bei einer Wahlveranstaltung in Raleigh wie ausgewechselt, dynamisch, kraftvoll, präsent: «Ich weiss, dass ich kein junger Mann mehr bin, um das Offensichtliche zu sagen. Ich weiss, dass ich nicht mehr so gut zu Fuss bin wie früher, ich spreche nicht mehr so geschmeidig wie früher, ich debattiere nicht mehr so gut wie früher, aber ich weiss, was ich weiss. Ich weiss, wie man die Wahrheit sagt.»
Joe Biden gab sich gegenüber seiner lautstarken Anhängerschaft in North Carolina überzeugt, das Präsidentenamt nach wie vor ausüben zu können: «Leute, ich gebe euch mein Wort als Biden, ich würde nicht wieder kandidieren, wenn ich nicht von ganzem Herzen und mit ganzer Seele daran glauben würde, dass ich diesen Job machen kann. Denn, offen gesagt, der Einsatz ist zu hoch.»
Millionen von Zuschauern
Nur: Die Grösse des Publikums auf einem Messegelände in Raleigh war am Freitag begrenzt. Die TV-Debatte am Abend zuvor hatten 51,3 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner live gesehen. Zwar war es die niederste Einschaltquote für ein Rededuell auf höchster Ebene seit 2004, als sich George W. Bush und John Kerry gegenübergestanden hatten. Die erste Debatte zwischen Biden und Trump 2020 hatte noch 73 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer angezogen.
In Wirklichkeit aber dürfte das Interesse der Wählerschaft 2024 grösser gewesen sein, denn etliche Millionen mehr dürften auf Websites und in den sozialen Medien zugeschaltet gewesen sein. Allein auf der YouTube-Seite von CNN loggten sich an die zehn Millionen Menschen ein.
Umstrittenes Sendeformat
Kontrovers blieb das Format der 90-minütigen Fernsehdebatte in Atlanta, die keinen Faktencheck durch Moderator Jake Tapper und Moderatorin Dana Bash zuliess – ein Vorgehen, für das sich CNN im Vorfeld bewusst entschieden hatte. Die beiden, hiess es, sollten den Meinungsaustausch zwischen den beiden Kandidaten lediglich erleichtern, nicht aber aktiv ins Gespräch eingreifen: «Unser Job war es, sicherzustellen, dass die Kandidaten gehört wurden, so dass Wählerinnen und Wähler informierte Entscheidungen treffen können, und wir sind zufrieden, dass uns das gelungen ist.»
Trotzdem mangelte es nicht an Kritikern des Sendeformats: «Das Fehlen eines Faktenchecks in Realzeit ist der grösste Fehler dieser Debatte», schrieb ein NBC-Mitarbeiter auf X. Selbst innerhalb des Senders wurden Fragen laut, ob sich die beiden Moderierenden nicht besser auf den «Berg von Lügen» hätten vorbereiten sollen, den Donald Trump von sich gab.
Lügen verdankt
Zu diesem Schluss gelangte in der «Washington Post» auch Kolumnist Dama Milbank: «Der Gastgeber der Debatte, CNN, hatte offenbar verfügt, dass seine Moderatoren kein Wort der Korrektur sagen und keine einzige Tatsache überprüfen durften. Stattdessen bestätigten sie jede stupide Lüge, indem sie lediglich mit einem milden ‹Danke Ihnen› reagierten. »
Doch wie Joe Scarborough lokalisierte auch Milbank das ultimative Versagen bei Joe Biden: «Er sah schwach und verloren aus, sein Mund stand offen, er murmelte und schlängelte sich und verlor seinen Gedankengang. Selbst wenn er gute Sprüche und treffende Gegenreden zu Trumps Trommelfeuer hatte, brachte er sie so schlecht rüber, dass ihre Wirkung verloren ging.»
Substanz weniger wichtig
Noch im Vorfeld der Debatte waren sich die meisten Beobachter einig gewesen, dass es für den Präsidenten in erster Linie darum gegen müsse, die Leute sein Alter und seine Schwächen vergessen zu lassen. Das ist Biden am Donnerstagabend mächtig misslungen. «Sie (Biden und Trump) sind drei Jahre auseinander», sagte David Plouffe, der 2008 Barack Obamas siegreichen Wahlkampf gemanagt hatte, unmittelbar nach der Fernsehdebatte: «Heute Nacht schienen sie 30 Jahre auseinander.»
Zwar habe Joe Biden in Sachen Substanz gewonnen und seine Politik sei in mancherlei Hinsicht noch immer beliebter als Donald Trumps. Auch schreckten viele Wählerinnen und Wähler vor einer zweiten Amtszeit des Republikaners zurück: «Doch in der brutalen Realität von Präsidentschaftswahlkämpfen ist Substanz wohl nicht wichtiger als Stil und die Wahrnehmung von Fitness.»
«Von China bezahlt»
Unwidersprochen gelang es laut CNN-Faktencheckern Donald Trump in Atlanta, in mindestens 30 Fällen schlicht zu lügen. Das reichte von der Behauptung, Demokraten würden statt abzutreiben, Neugeborene auch noch nach der Geburt töten, über die Beteuerung, Millionen von Migranten seien aus Gefängnissen und Nervenkliniken entwichen, um Amerika zu zerstören bis hin zur Feststellung, Nancy Pelosi, die frühere Sprecherin im Abgeordnetenhaus, sei in Wirklichkeit für den Sturm auf das US-Capitol am 6. Januar 2021 verantwortlich.
«Er wird von China bezahlt», sagte Donald Trump über Joe Biden: «Er ist ein Manchurian (d. h. Gehirnwäsche unterzogener) Kandidat» – eine Anspielung auf den gleichnamigen Politikthriller aus dem Jahr 2004 nach einem Roman von Richard Condon. Dagegen sei in seiner Amtszeit alles gut und perfekt gewesen: eine florierende Wirtschaft, keine Kriege, kein Terrorismus, keine Umweltkrise, keine Probleme mit der Einwanderung, gar nichts. Nur einmal hatte Trump wohl recht. «Ich weiss wirklich nicht, was er am Ende dieses Satzes gesagt hat», meinte er nach einer unklaren und verwirrenden Antwort Bidens zur Lage an Amerikas Südgrenze: «Ich glaube, dass auch er nicht weiss, was er gesagt hat.»
Streit über Golf-Handicap
Einmal allerdings dürften auch viele Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mehr gewusst haben, worum es den beiden Kandidaten ging. Unvermittelt begannen die zwei Senioren, über ihr Golf-Handicap zu streiten – ein abstruses Randthema angesichts dessen, was bei der Präsidentenwahl am 5. November für Amerika und die Welt auf dem Spiel steht.
In einer Persiflage der Fernsehdebatte für die «Washington Post» lässt Kolumnistin Alexandra Petri CNN-Moderatorin Dana Bash das Publikum Folgendes fragen: «Spüren Sie, wie die kalte Hand des Schreckens Ihr Herz ergreift, Amerika, während diese beiden Männer über 75 über ihr Golf-Handicap streiten? Spüren Sie ein Gefühl, als würde etwas sterben, und haben Sie Angst davor, zu sehen, was gestorben ist, weil Sie befürchten, dass es Hoffnung sein könnte? Wachen Sie schweissgebadet auf und fragen sich: Wie sind wir hierher gekommen? Wie sind wir zur Entscheidung gekommen, dass eine Live-Vorstellung im Fernsehen der beste Weg ist, um zu bestimmen, wer das Land regieren soll?»
Schwache Auswirkung
Bleibt für Joe Biden und die Demokraten der Trost, dass die Erfahrung zeigt, dass präsidiale Debatten selten grosse Auswirkungen auf die Beliebtheit eines Kandidaten zeigen – ganze sieben Zehntel eines Punktes. Laut einer CNN-Blitzumfrage nach dem Rededuell in Atlanta antworteten 81 Prozent registrierter Wählerinnen und Wähler, die Debatte wirke sich nicht auf ihren Entscheid an der Urne aus. Lediglich fünf Prozent antworteten, die Fernsehsendung habe sie ihre Meinung ändern lassen.
Auch hat 2024 die nationale Debatte früher als üblich und vor den beiden Wahlkongressen der beiden Parteien im Sommer stattgefunden. Es bleiben also noch 18 Wochen bis zum Wahltag im November, in denen erfahrungsgemäss viel geschehen kann. Ob es am 10. September auf ABC News wie geplant zu einer zweiten Fernsehdebatte zwischen Joe Biden und Donald Trump kommen wird, steht offen.