Die Schweiz zählt 2172 Gemeinden. Doch der Kanton Glarus hat 2006 die Anzahl Gemeinden von 25 auf 3 reduziert. Die Frage «Wer hat’s erfunden?» ist bezüglich Gemeindefusionen damit beantwortet.
Gemeindefusionen im 21. Jahrhundert
Wer es in der Schweiz wagt, ihre föderalistischen Strukturen zu hinterfragen, muss sich warm anziehen. Darum gleich zum Anfang meine Garantieerklärung: Ich will das System der Gemeindeautonomie keineswegs abschaffen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Stärkung unserer «Sonderfälle» wird jedoch nur durch ihre zeitgemässe «Renovation» erreicht.
1850 zählte die Schweiz 3200 Gemeinden. 170 Jahre später sind es noch deren 2172. Zu viele. Auch wenn das IDHEAP der Universität Lausanne uns attestiert, bezüglich Gemeindeautonomie in Europa auf Platz eins zu liegen, drängt sich die Frage auf: Ist dieses Kriterium im 21. Jahrhundert überhaupt noch entscheidend? Die staatstragende Rolle der Gemeinden steht nicht zur Diskussion. Doch die Einsicht steigt, dass sich auch dieses fantastische System zwangsläufig verändern muss, um die ihm ursprünglich zugedachten Funktionen in Eigenregie erfüllen zu können. Denn da hapert es gewaltig.
Akuter Personalmangel
Die Schwierigkeiten beginnen bei der Suche nach geeigneten Kandidaten und Kandidatinnen für die Exekutive, aber auch für alle übrigen Milizjobs, die zu besetzen sind. «Mehr als die Hälfte der Schweizer Gemeinden berichtet von Schwierigkeiten, genügend Personal für Milizämter zu finden», sagt der Politologe Markus Freitag. Wer sich als Gemeinderätin oder Gemeinderat engagiert und viel Gratisarbeit leistet, soll deshalb neu ein Zertifikat erhalten. Das schlagen die Schweizer Kader-Organisation und der Schweizerische Gemeindeverband vor. Damit wollen sie politisches Engagement im Milizsystem wieder attraktiver machen (SRF 4 News). Ich persönlich bezweifle stark, dass dieser Verzweiflungsentscheid eine Wirkung zeigt.
Es sei ein «Schritt in die richtige Richtung, um die Probleme des Milizsystems zu beheben», so Freitag. Es gebe eine «Angebotskrise»: Die Zahl der Menschen, die sich in der Schweiz nebenberuflich für ein politisches Amt bewerben, nimmt stetig ab. Die Zahl des Nachwuchses nimmt auch ab, weil die Bedeutung von Lokalparteien, die lange als «Mobilisierungsagenturen» gewirkt haben, schrumpft, wie der Politikwissenschaftler erklärt. Mit der Krise der Lokalparteien sitzen vermehrt Parteilose in Gemeinde-Exekutiven – sofern sich überhaupt jemand für ein Amt begeistern kann. Da und dort wird vorgeschlagen, höhere Vergütungen auszurichten. Nach der Devise, koste es, was es wolle?
Politische Parteien und Parteilose
Aktuell gibt es 13’000 Exekutivämter zu besetzen. Aber in 40 Prozent aller Gemeinden finden gar keine eigentlichen Wahlen mehr statt, weil zu wenig Auswahl besteht. Dies habe auch mit einer Krise der lokalen Parteien zu tun, erklärt Andreas Ladner, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne und Mitautor des Monitorings. «Es gibt so etwas wie ein Verschwinden der Parteien aus der lokalen Politik, zumindest in den kleinsten Gemeinden. Das hat natürlich auch etwas mit der Bedeutung der Parteien insgesamt in der Gesellschaft zu tun», sagt er.
Inzwischen ist, gemäss Medienberichten, bereits über die Hälfte aller Exekutivposten von Parteilosen besetzt.
Wenn es keine Auswahlverfahren mehr gibt, muss genommen werden, wer sich da noch anbietet. Eine solche Situation ist nicht überall qualitätsfördernd. Im Übrigen gelten für die vielen weiteren Milizposten in den Gemeinden (Schulkommissionen, Gesundheitsbehörden, Soziales etc.) bezüglich Personalrekrutierung ähnliche Voraussetzungen und Probleme wie bei den Exekutiven.
Kirchturmpolitik
Während die Welt zusammenrückt (Globalisierung) und Europa sich verstärkt auf den länderübergreifenden Strukturwandel konzentriert, operieren wir mit Strukturen aus dem vorletzten Jahrhundert. Die Konsequenz: Gemeinden delegieren immer mehr Aufgaben nach aussen, zur Erledigung durch Gemeindeverbände, oder nach oben, der Kanton soll sich darum kümmern. Weit verhängnisvoller ist aber der wachsende Trend, für gewisse Aufgaben private Dienstleistungsunternehmen zu engagieren. Meistens ist kommunale Überforderung die Begründung oder eben Personalmangel. Das föderalistische System, auf das wir so stolz sind, wird in diesen Fällen zur Farce. Wenn die Dorfpolizei – als Beispiel – nicht mehr alle Aufgaben erfüllen kann und diese deshalb gegen Bezahlung privaten Überwachungsgesellschaften überlässt, wo bleibt da das zentrale Element der Entscheidungsfindung und -ausführung auf der untersten politischen Ebene?
In unserer komplexen Welt belasten neue Herausforderungen laufend die Handlungszuständigkeit der Gemeinden. Fürsorge, Altenpflege, Verkehrsüberwachung, Umweltschutz, Schulbauten, ökologische und Nachhaltigkeit beachtende Massnahmen, Feuerwehr, alles wird komplexer, arbeitsintensiver. Aktuellstes Beispiel: Erst kürzlich trat das neue Kinder- und Erwachsenenschutzgesetz in Kraft, das kommunale Vormundschaftswesen gehört der Vergangenheit an.
Das Schweizer Milizsystem
Das Milizsystem ist wohl tatsächlich weltweit einzigartig. Gerade auf der untersten Stufe, der Gemeindeebene, garantierte es in der Vergangenheit eine breit abgestützte Involvierung der Bevölkerung in die lokalen politischen Angelegenheiten. Garantierte es. Mit der Entfremdung der jungen Generationen von diesen Traditionen und Ritualen gerät jedoch das ganze System aus dem Gleichgewicht.
Was ist zu tun? Könnte die Schule einspringen? Nicht als zusätzliches (ich höre schon den Aufschrei des Lehrpersonals), aber anstelle eines weniger entscheidenden Faches? Was wissen unsere Jungen über die schweizerischen Eigenheiten ihres politischen Systems? Könnten die Jugendfachstellen entsprechende Workshops mit Belohnungspreisen anbieten? Oder die Kirchgemeinden? Rap-Kurse mit populären Vorbildern, ergänzt durch Einblendung von «Wisst ihr das?», Fragespiele vermittelt durch Freiwillige aus der Gemeinde. Neue Gefässe braucht unser Land, diese kommen nicht auf leisen Sohlen hereingeschlichen, man muss sie «erfinden».
Realisieren wir überhaupt, was das bedeutet, das Milizsystem? In seinem Kantonsmonitoring hat Avenir Suisse schon 2012 aufgezeigt, wie zum Beispiel in Oberägeri (ZG, 3500 Einwohner) nicht weniger als 23 Exekutivposten zu besetzen sind. Rechnet man die 20 Kommissionen mit ein, sind es sage und schreibe über 100 politische Positionen. Da fragen sich jetzt landauf und landab engagierte Menschen, auf welche Weise starke, autonome Gemeinden erhalten werden können. Gemeindeautonomie ist ja kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Wer dafür eintritt, sieht Handlungsbedarf.
Aktuelle Bestandesaufnahme
Der Tages-Anzeiger hat im Juni 2021 die relevanten Daten aus dem Kanton Zürich gesammelt und konstatiert: «In Zürcher Gemeinderäten sitzen vor allem alte Männer.» Er beantwortet auch gleich die Frage, «wieso die Senioren an der Macht sind». Während sich die Bevölkerungen europaweit laufend stark verändern, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass an der Wurzel der Schweizer Demokratie die Zeit stehen geblieben ist. Die Auswertung der Erhebung hat des Weiteren ergeben: «Der durchschnittliche Gemeinderat ist 56 Jahre alt, männlich, gehört keiner Partei an.» (Zwischenbemerkung: Dieser Beschrieb traf auch schon auf den Autor dieses Beitrags zu, von 1994 bis 2002 Gemeinderat in Kilchberg ZH.)
Im gleichen Bericht, der als typische Zürcher Gemeinde Stallikon erwähnt, wird auf ein weiteres Phänomen hingewiesen: An der letzten Gemeindeversammlung (wo über wichtige Geschäfte abgestimmt wird) nahmen 30 von 2400 Stimmberechtigten (1,5 Prozent) teil. Das heisst nichts anderes, als dass diese kleine Minderheit über die wesentlichen Geschäfte entscheidet. «Es sind die Alteingesessenen, die, die hier geboren sind und hier den Lebensabend verbringen», kommentiert der amtierende Gemeindepräsident diese Situation. Sie dürfte repräsentativ sein – aber kein Vorzeigeargument
Gemeindefusionen wären sinnvoll
Die meisten Gemeindefusionen wurden in der Vergangenheit «der Not gehorchend» realisiert. Wenn alle Stricke reissen, schauen sich die betroffenen Gemeinden nach Auswegen aus der Misere um und fusionieren (der alte Name der Gemeinde darf bestehen bleiben).
Noch viel zu wenig Beachtung findet das strategische Moment von Gemeindefusionen. Warum schliessen sich nicht mehr Gemeinden zusammen, um die kommunalen Aufgaben professioneller, effizienter und kostensparender zu erledigen? Im IT-Zeitalter sind die Möglichkeiten gross, Möglichkeiten, von denen man vor 100 Jahren nicht einmal träumte. Es gelten jedoch nicht nur solche Begründungen; wie in diesem Beitrag aufgezeigt wurde, ist es die personelle Nachwuchsknappheit, die für solche Massnahmen spricht, bevor der Notstand sichtbar wird. Wenn wir uns vergegenwärtigen, dass in der kleinen Schweiz Zehntausende von Freiwilligen in über 2000 Kommunen die mehr oder weniger identischen Aufgaben zu erledigen haben (rechne!) und sich landauf, landab der Nachwuchs abwendet, warum nicht vorausdenkend operieren?
2011 schrieb ich schon über Gemeindefusionen in einem Beitrag für die Internetmedien. «Die kommunalen Bauordnungen. 2800 unterschiedliche Bauordnungen zählt unser kleines Land. (Die Metropolregion London zählt etwas mehr Einwohner als die Schweiz und kennt nur eine.) Konfusion und Rechtsunsicherheit sind gross. Langfristig das schlimmste Übel ist der kurzsichtige Drang kommunaler Exekutiven, möglichst viel Landschaft als Bauland einzuzonen. Damit soll Wachstum gefördert werden, was leider immer noch als besondere Auszeichnung für vorausschauende Behörden interpretiert wird.»
Gemeindefusionen zur Stärkung des föderativen Gedankens, nicht der Not gehorchend, sondern als strategisches Hilfsmittel der Zukunftsplanung. Zumindest eine Überlegung wert.