Putins militärischer Überfall auf die Ukraine wird viele Ukrainer zur Flucht in Richtung Westen treiben. Die EU rechnet mit Hunderttausenden von Menschen. Auch in der Schweiz werden Flüchtlinge um Asyl nachsuchen. Wird man sie ähnlich willkommen heissen wie ungarische und tschechoslowakische Flüchtlinge 1956 und 1968?
Tatjana N. ist eine alte ukrainische Bekannte unserer Familie. Die etwas über 60-jährige Frau lebte in jüngeren Jahren meist in Moskau, später kaufte sie in der ostukrainischen Stadt Charkiw, wo sie ursprünglich herkommt, eine bescheidene Wohnung. Nach der Annexion der Krim und der Abspaltung separatistischer Gebiete in der Ostukraine verkaufte sie die Wohnung, weil sie sich in Charkiw nicht mehr sicher fühlte. Sie lebte in den letzten Jahren hauptsächlich in Kiew und in Lwiw (Lemberg).
Nataschas Ängste sind Realität geworden
Vor etwa zehn Tagen informierte Natascha uns, dass sie wegen eines drohenden Einmarsches der an der ostukrainischen Grenze und in Belarus stationierten Truppen in die Türkei reise. Eine Reihe von Bekannten aus ihrem Umkreis hätten die gleiche Entscheidung getroffen. Wir hielten das damals für einen überstürzten Schritt, weil wir nicht so recht daran glauben konnten, dass Putin tatsächlich eine volle Invasion der Ukraine im Sinne haben könnte.
Doch seit heute Morgen sind Tatanas Befürchtungen grausame Realität geworden. Putins Militärmaschinerie ist an allen Fronten dabei, die Ukraine militärisch zu erobern und unter den russischen Stiefel zu zwingen. Alle seine noch am Vortag abgegebenen Beteuerungen, es gehe nur darum, «Friedenstruppen» in die beiden «Volksrepubliken» Donezk und Luhansk zu schicken, haben sich als nackte Lügen entpuppt. Das wird seine eifrigen Claqueure im Westen indessen nicht davon abhalten, den gewaltsamen Überfall auf das Nachbarland als «überlegene Strategie» und als berechtigte Abwehr «westlicher Aggression» (Köppel) zu lobpreisen.
Grosszügige EU-Nachbarn der Ukraine?
Womit wir uns im Westen und nicht zuletzt in der Schweiz im Zusammenhang mit der Ukraine-Tragödie ernsthaft auseinandersetzen müssen, ist die Frage, wie wir hier auf die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Flüchtlingsströme aus der Ukraine reagieren werden. Manche Ukrainer, die wie Tatjana schon vor dem russischen Angriff ins Ausland geflohen sind, werden versuchen, in einem EU-Land oder in einem andern Staat Westeuropas als Flüchtlinge aufgenommen zu werden.
Viele andere Bürger werden folgen und nicht warten, bis sie einen Flug in die Türkei ergattern können, sondern über die Grenze zu Polen, Rumänien, der Slowakei oder Ungarn direkt in ein EU-Land gelangen. Die ebenfalls an die Ukraine angrenzende Republik Moldau hat bereits am Donnerstag die Ankunft von mehreren tausend Flüchtlingen gemeldet. Dass viele Ukrainer insbesondere aus dem Westen des Landes nach Russland fliehen werden, damit ist angesichts des zynischen Überfalls der Kreml-Armeen kaum zu rechnen.
Wie wird man diese Flüchtlinge im Westen aufnehmen? Dass sie echte Kriegsflüchtlinge sind und nicht sogenannte Armutsmigranten, die nicht unbesehen ein Recht auf Asyl geltend machen können, werden auch die misstrauischsten Politiker im Westen und ihre Anhänger nicht glaubwürdig bestreiten können. Es ist auch anzunehmen, dass die osteuropäischen EU-Länder sich gegenüber den fliehenden Menschen aus der benachbarten Ukraine weniger zugeknöpft verhalten werden als 2015 gegenüber dem Flüchtlingsstrom über die sogenannte Balkanroute aus dem Nahen Osten. Das benachbarte Polen, das eine 500 Kilometer lange Grenze mit der Ukraine verbindet, hat bereits acht Empfangszentren eingerichtet, in denen Kriegsflüchtlinge verpflegt und medizinisch versorgt werden.
Wahrscheinlich wird dann ein von der EU aufgestellter Verteilungsplan besser funktionieren als bei der Flüchtlingswelle von 2015, als Deutschland weitgehend allein die Aufnahme von beinahe einer Million Migranten bewältigen musste.
Die Schweiz kann sich nicht heraushalten
Die Schweiz wird sich bei dieser sich aktuell abzeichnenden Flüchtlingsfrage nicht heraushalten können mit dem Argument, sie sei ja nicht Mitglied der EU und habe auch keine direkten Grenzen mit der Ukraine. In diesem Kontext muss an die Politik unseres Landes beim Ungarn-Aufstand 1956 gegen sowjetische Besatzer, beim Einmarsch der Warschaupakt-Truppen in der Tschechoslowakei 1968 und während des Jugoslawienkrieges in den 1990er Jahren erinnert werden. Die Schweiz nahm 1956 um die zehntausend ungarische Flüchtlinge auf, 1968 ein Kontingent von 12’000 Flüchtlingen aus der Tschechoslowakei und Ende der 1990er gegen 30’000 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien (von denen später viele wieder heimkehrten).
Warum sollte eine derartige, relativ grosszügige Aufnahmepraxis nicht auch gegenüber ukrainischen Flüchtlingen möglich sein, falls tatsächlich eine grössere Fluchtwelle aus diesem Land einsetzen sollte? Putin tut im Moment jedenfalls alles, um eine solche tragische Entwicklung mit roher Gewalt zu provozieren. Die Schweizer Regierung sollte sich darauf vorbereiten. Es gibt Hinweise aus Bern und aus einigen Kantonen, das solche Vorbereitungen im Gange sind.