Das Europäische Parlament hat am Donnerstag mit grosser Mehrheit für ein „vorläufiges Einfrieren“ der Verhandlungen mit der Türkei über einen Beitritt zur EU gestimmt. Diese Resolution ist nicht bindend, doch praktisch alle EU-Staaten stehen einer Aufnahme der Türkei skeptisch gegenüber. Wird jetzt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine Drohung wahr machen und sich der von Russland und China dominierten „Schanghai-Gruppe“ anschliessen?
Die Kritik des Europa-Parlaments
Erdogan erklärte am vergangenen Sonntag, dass die Türkei „nicht um jeden Preis“ Mitglied der EU werden müsse. Sie könne auch der „Schanghai-Organisation für Zusammenarbeit“ beitreten. Erdogan ist erzürnt darüber, dass die EU die seit 2005 laufenden Verhandlungen über den Beitritt der Türkei auf die lange Bank schiebt. Dem türkischen Staatschef ist es bisher nicht einmal gelungen, für seine Landsleute die Abschaffung der Visumpflicht zu erreichen.
Die vom Europa-Parlament verabschiedete Resolution bezeichnet zwar die Türkei als „wichtigen Partner der EU“, dessen Regierung jedoch das Land durch seine Handlungen „weiter vom europäischen Pfad“ abbringe. Besonders kritisiert wird die Schliessung oppositioneller Zeitungen, die Verhaftung von Journalisten und die Säuberungswelle in der Armee und der Justiz nach dem missglückten Militärputsch.
Ein Poker-Bluff?
Jetzt muss Erdogan etwas tun, um nicht als begossener Pudel dazustehen. Seine Ankündigung, als Alternative zum EU-Beitritt die Mitgliedschaft der Schanghai-Gruppe zu suchen, wirkt wie ein Bluff beim Pokern. Diese Organisation für regionale Zusammenarbeit gibt es eigentlich nur auf dem Papier. Sie wurde 2001 von China und Russland gegründet. Weitere Mitglieder sind die früheren Sowjetrepubliken Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan und Usbekistan. Afghanistan, Indien, Iran, die Mongolei und Pakistan haben Beobachterstatus; Weissrussland und die Türkei sind „Dialogpartner“.
Die Schanghai-Gruppe konzentrierte sich bei ihrer Gründung auf den Kampf gegen den radikalen Islam und den internationalen Drogenhandel. Regelmässig führen China und Russland gemeinsame Militärmanöver durch. Es gibt aber keine wirtschaftlichen oder sicherheitspolitischen Strukturen. Die Regierung in Peking tat sich daher leicht, sofort ihre Bereitschaft zu Verhandlungen über „einen jeglichen Antrag“ der Türkei zu bekunden.
Heikles Verhältnis Nato-Türkei
Kann aber die Türkei gleichzeitig Mitglied der Nato und der Schanghai-Gruppe sein? Im westlichen Verteidigungsbündnis, dem die Türkei 1952 zusammen mit Griechenland beitrat, ist eine gewisse Nervosität spürbar. Seit Erdogan in Ankara regiert, nehmen die Spannungen zwischen der Türkei und dem Nato-Hauptquartier zu. Im Syrienkonflikt sind die Interessen der Türkei und den USA nicht deckungsgleich. Die türkischen Behörden behindern US-Flugzeuge bei der Nutzung der Nato-Luftwaffenbasis Incirlik.
Die Lage in der Türkei hat auch direkte Auswirkungen auf das Hauptquartier der Nato in Brüssel und seine Nebenstellen. Dort tätige türkische Offiziere, die in ihre Heimat zurückberufen werden, haben aus Angst vor Verfolgung in Belgien um politisches Asyl angesucht.
Schutzherr aller Turkvölker
Einer der Gründe, warum Erdogan jetzt auf die Schanghai-Gruppe schielt, ist sein Ehrgeiz, als Schutzherr aller Turkvölker vom Westen Chinas bis zum Mittelmeer aufzutreten. Turkmenen und andere türkischstämmige Völker leben in ganz Zentralasien und auch im Norden Syriens. Diese einstigen Nomaden haben um das sechste Jahrhundert herum ihre lange Wanderung von der chinesischen Grenze und dem Altai-Gebirge bis vor die Tore Wiens angetreten.
Der neue Sultan in Ankara hat der turkmenischen Minderheit in Syrien seinen Schutz zugesichert. Vor einem Jahr schoss die türkische Luftwaffe einen russischen Kampfjet ab, der über dem von Turkmenen bewohnten Gebiet nördlich von Lattakia operierte. Moskau protestierte und antwortete mit Wirtschaftssanktionen. Angesichts der schweren Auswirkungen des von Russland verhängten Boykotts türkischer Importe und des Ausbleibens russischer Touristen musste Erdogan bei Wladimir Putin persönlich Abbitte leisten.
Was Erdogan, Putin und Xi Jinping verbindet
Putin, Erdogan und der starke Mann in Peking, Xi Jinping, kommen sich manchmal in die Quere, doch sie haben einen gemeinsamen Feind: das westliche Demokratieverständnis und den amerikanischen Imperialismus. Ob sich daran nach dem Amtsantritt Donald Trumps etwas ändert, bleibt abzuwarten. Erdogan hat jedenfalls aus seinen Absichten nie ein Geheimnis gemacht. „Demokratie ist für mich nicht das Ziel, sondern nur der Zug dahin“, bekannte er einmal.
Gemeinsam ist allen drei starken Männern, zu denen man wohl auch bald Trump wird zählen müssen: Sie versprechen dem Volk, ihr Land zu einstiger Grösse zurückzuführen. Das kann auf die Dauer nicht gut gehen.