Hypokognition – was ist das? Wenn Sie diese Frage stellen, sind Sie hypokognitiv bezüglich Hypokognition. Ihnen fehlt der Begriff für ein bestimmtes Phänomen. Steven Stills von der amerikanischen Rock-Band „Buffalo Springfield“ hat das schön gesungen: „There is something happening here. What it is ain’t exactly clear.“ Wir alle kennen die Erfahrung der Sprachlosigkeit, des Fehlens einer präzisen Beschreibung.
Galanter Sexismus
Zum Beispiel hören wir den Ehemännerschmus von der Art „Ich überlasse meiner Frau gern die Küche, sie ist eine geborene Köchin“, oder allgemeiner: „Sie hat das wundervolle typisch weibliche Einfühlungsvermögen.“ Nicht selten regt sich in uns das Unbehagen eines linguistischen Defizits, eben einer Hypokognition. Man sucht einen Ausdruck für das Pseudokompliment aus impliziter männlicher Herablassung, das eigentlich meint „Sie taugt bloss zum Kochen“ oder „Sie kann nicht denken“.
Nun gibt es dafür tatsächlich einen Ausdruck: galanter Sexismus. Die Psychologin Kaidi Wu und der Psychologe David Dunning haben ihn geprägt, um mit Studierenden ein Experiment durchzuführen. Sie wiesen sie zuerst auf das Phänomen hin und anschliessend stellten sie ihnen den Begriff vor. In der Folge beobachteten die Studierenden mehr Fälle von galantem Sexismus als vor der Kenntnis des Begriffs, sprich: im Zustand der Hypokognition.
Neue Verhaltensweisen dank elektronischer Medien
Begriffe machen die Wiklichkeit oft erst sichtbar. Dass wir Dinge ausserhalb unseres konzeptuellen Horizonts nicht oder nur vage wahrnehmen, ist eine alte Einsicht: die Grunderfahrung, auf der sich menschliche Kultur in höchste abstrakte Höhen entwickelt hat. Paul Klees berühmtes Wort „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern Kunst macht sichtbar“ lässt sich eins zu eins auf die Sprache übertragen.
So haben sich durch die neuen elektronischen Medien Verhaltensweisen eingebürgert, denen gegenüber wir hypokognitiv sind. Es gibt zum Beispiel eine Form von salonfähiger Brüskierung, die sich darin äussert, dass ein Gesprächspartner sich ständig auf sein Handy konzentriert, statt mit einem zu reden. Nun kursiert ein Ausdruck – zumindest im Englischen – dafür: „phubbing“, ein Kofferwort aus „phone“ und „snubbing“ (brüskieren). Oder eine Person ist „figital“, wenn sie andauernd am digitalen Gerät herumfummelt („fiddle“).
Hypokognition und Pandemie
Gegenüber Mikroben und zoonotischen – also von Tieren übertragenen – Krankheiten befinden wir uns in einem Zustand der Hypokognition. Wir sprachen bis vor kurzem viel zu wenig darüber und uns fehlt eine Begrifflichkeit dafür, sagt der amerikanische Epidemiologe Dennis Carroll. Nun tritt das Coronavirus unsere Tür ein und besetzt als ungebetener Gast unser Haus. Es ist fast über Nacht zu einem unheimlichen Mitbewohner geworden. Auf trügerische Weise beherrscht es die Schlagzeilen. Trügerisch, weil uns weitgehend eine Sprache für dieses überraschende Widerfahrnis fehlt.
Natürlich sprechen wir jetzt über medizinische, gesundheitspolitische, wirtschaftliche, psychologische, soziale Herausforderungen, und das ist gut so. Aber nochmals Steven Stills: „There is something happening here. What it is ain’t exactly clear.“ Wir konstatieren auf einmal überall beunruhigende Phänomene: Geschäfte schliessen, bestimmte Güter werden knapp, Ausgangssperren werden verhängt, Grenzen dicht gemacht, in den Heimen für verhaltensgestörte Kinder steigt die Gewalt, Amerikaner kaufen vermehrt Waffen – ein Muster von Symptomen von etwas, aber von was? Wir bekommen es nun wirklich mit der Wucht und Komplexität einer planetarischen Krise zu tun, gegenüber der wir hypokognitiv sind.
Eine Form von Hypokognition besteht hier darin, dass wir eine unangemessene Sprache verwenden, zum Beispiel die moralische. Wir beginnen von Strafe oder Nemesis zu reden, was nichts anderes bedeutet, als dass wir uns selber täuschen. Möglicherweise desinfizieren wir daduch unsere Seele; die Probleme lösen wir nicht. Bösartig wird eine solche Form der Hyperkognition in der Schuldzuweisung. Man hat keinen Begriff für das Problem, dafür einen Namen für den Schuldigen: Big Pharma, Chinesen-Mafia, CIA, Schweinezüchterlobby.
Verordnete Sprachlosigkeit
Der Begriff der Hypokognition wurde von Ethnologen eingeführt. Robert Levy fiel 1973 in einer Studie über die Bewohner Tahitis auf, dass diese keine Ausdrucksform für Trauer nach dem Todesfall nahestehender Personen kannten. Sie fühlten sich vielmehr krank. Sie empfanden ein tiefes Befremden. Ihnen fehlte ein Modus, Gram und Kummer zu zeigen.
Tahitianer litten in ihrer Bewältigung von Tod und Verlust nicht an Gram, sie litten an einer Hyperkognition von Gram. Levy behauptete in seiner Studie nicht, dass Thaitianer kein solches Gefühl verspüren. Sie sprachen nur nicht darüber, weil die Gemeinschaft bewusst verhinderte, dass das Gefühl zur Sprache kommt. Hypokognition war also quasi eine soziale Taktik, gewisse unliebsame emotionale Regungen nicht öffentlich zu erörtern. In der Tat: Wie kann man etwas fühlen, für das man kein Wort hat? Um Wittgenstein zu paraphrasieren: Das, wovon man nicht sprechen darf, kann man auch nicht fühlen.
Hypokognition kann Wirklichkeiten verdecken
Damit berühren wir einen höchst virulenten Punkt der politischen Gegenwart. Wie kann man sich belogen, betrogen, unterdrückt, geknebelt, diskriminiert fühlen, wenn es diese Phänomene offiziell nicht gibt? Das ist die mephistophelische Logik aller autoritären und repressiven Regimes: Du entwickelst Gefühle über Phantome; deshalb sperren wir dich am besten in die Klapsmühle. Wenn die Aufhebung der Hypokognition Wirklichkeiten sichtbar machen kann, dann eignet sich Hypokognition auch vorzüglich, Wirklichkeiten zu verdecken. Zensur nennt man das etwas weniger akademisch.
China bietet ein exemplarisches Schaulabor dafür. Der Parteiapparat setzt offenbar alle Mittel ein, um die Bevölkerung in einen Zustand der Hypokognition zu versetzen. „Goldener Schild“ nennt sich das Projekt euphemistisch. Man stellt Wörter unter Quarantäne, damit sie nicht „anstecken“, etwa „DDR“, „Religion“ oder „China vor Mao“.
Jedes autoritäre Regime fürchtet sich insgeheim vor den gefährlichsten Infektionserregern, den Schriftstellern. Sie nennen die Dinge beim Namen. Der Autor und Blogger Han Han, der eine Zeitlang als einflussreiches Sprachrohr für viele junge Chinesen galt, berichtete in einem Interview, die Internethäscher würden in seinen Blogs Wörter wie „Regierung“ und „kommunistisch“ zensieren – mit der nichtintendierten Konsequenz freilich, dass nun auch Lobhudelein in anderen Blogs wie „Lang lebe die kommunistische Regierung!“ der Zensur zum Opfer fielen.
Der freie Geist ist ein Virus
Eine Metapher drängt sich dieser Tage geradezu auf: Der freie Geist ist ein Virus. Es muss ansteckend sein, braucht viele Wirte, sonst geht es zugrunde. Spracharmut, Sprachlosigkeit, Sprachentzug sind so gesehen Desinfektionsmittel des Geistes, sie schaffen ein Klima intellektueller Keimfreiheit. Die Ironie springt ins Auge: Ausgerechnet ein Regime, welches das Virus eigenständigen Denkens drakonisch in den Griff zu bekommen sucht, wurde nun von einem anderen Virus hinterrücks kalt erwischt. Wenn das kein Omen ist.