Die meisten von uns haben wahrscheinlich schon die Erfahrung gemacht: In der diffusen Gesprächskulisse einer Partygesellschaft hören wir uns plötzlich angerufen, ohne dass wir die anrufende Person ausmachen könnten; im Waldes-, Wind-, Fluss- oder Regenrauschen vernehmen wir unerwartet eine Tongestalt, eine „Stimme“. Einige geraten dann gar auf ein poetisches Anregungsniveau. Man muss ja nicht gleich ein Rilke sein, über den die folgende Anekdote erzählt wird. Er hielt sich 1911/1912 im Schloss der Gräfin Maria von Thurn und Taxis-Hohenlohe in Duino bei Triest auf. Schon seit einiger Zeit hatter er keine bedeutende Lyrik mehr hervorgebracht. In wechselnder psychischer Verfassung pflegte er Wanderungen entlang der Klippen über der Bucht von Sistiana zu machen. Eines Tages wanderte er besonders unmutig bei kräftiger Bora. Auf einmal war es ihm, als spräche aus dem Wind eine Stimme zu ihm. Sie war Inspiration zu einer der berühmtesten Zeile in den Duineser Elegien: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“
Stochastische Resonanz
Entsprangen diese Worte einer halluzinatorischen Anwandlung? Es gibt eine andere Erklärung. Wenn die Anekdote stimmt, wurde Rilke Zeuge eines Phänomens, das als „stochastische Resonanz“ bekannt ist – der Erscheinung einer Klanggestalt aus Zufallsrauschen, allgemeiner: der Entstehung von Ordnung aus Chaos. Gewöhnlich verrauscht ein Signal mit der Zeit, verliert an Klarheit und Kontur. Der umgekehrte Vorgang kann sich in sogenannten nichtlinearen Systemen abspielen. Grob gesagt handelt es sich hierbei um Systeme, bei denen sich nicht verlässlich sagen lässt, wie das Ausgangssignal vom Einganssignal abhängt. Ein schwaches Signal kann also durch Rauschen verstärkt werden. Tasächlich sind Rauschen und stochastische Resonanz wesentlich für unser bewusstes Verhalten. Es könnte also sein, dass Rilke, als er zu seiner Wanderung aufbrach, in seinem Unbewussten ein schwaches Signal trug – vielleicht ein Wort oder einen Satzteil –, das durch die kräftige chaotische Bora zu einer Verszeile verstärkt wurde. Tatsächlich brachen in der Folge die Dämme, ein Sturzbach von Wörten ergoss sich in ihm und am Abend hatte er die ganze erste Elegie geschrieben.
Der Löffelstör und das Planktonrauschen
In der Theorie der Kommunikation gilt: Das Signal ist das Wahre, Rauschen verfälscht, „verzettelt“ es. Dass Rauschen ein Signal verstärken kann, widerspricht zunächst einmal diesem Lehrsatz. Aber es findet sich durchaus Evidenz für die Hypothese der Verstärkung, zumal im Tierreich. So wies ein Team unter dem Zoologen Frank Moss stochastische Resonanz beim Löffelstör nach, einem in nordamerikanischen Flüssen beheimateten Fisch. Er ernährt sich von kleinen Krebsen und Zooplankton. Seine Jagdgründe sind Flüsse, in denen die Sicht oft durch grosse Turbulenzen und Trübungen stark behindert ist, weshalb sich beim Stör ein besonderes Ortungssystem entwickelt hat. Seine Stirn ist zu einem mächtigen löffelartigen Fortsatz ausgeformt. Tatsächlich handelt es sich um eine Antenne, die elektrische Signale empfängt. Die Organismen des Planktons emittieren schwache elektrische Signale, und ein Schwarm solcher Organismen erzeugt deshalb für den Stör wahrscheinlich ein ständiges niederfrequentes Umgebungsrauschen. Die Zoologen verstärkten nun in ihrem Experiment dieses Rauschen und stellten fest, dass der Stör dadurch in der Lage war, die Signale des Planktons aus grösserer Entfernung zu orten. Er „vernahm“ sie deutlicher. Eine ähnliche Verstärkung durch Rauschen wurde auch bei Krebsen, Grillen und Heuschrecken beobachtet.
Rauschen im Gehirn
Auch in unserem Gehirn „rauscht“ es gehörig. Unser Schädel ist eine Packung von etwa hundert Milliarden Neuronen, die miteinander in einer unglaublichen Choreographie von elektrischen und chemischen Signalübertragungen kommunizieren. Diese Signale bewegen sich zwischen den Zellen hin und her, und das führt zu einem höchst komplexen Oszilieren zwischen Hirnregionen. Das Oszillieren kann Aktivitäten synchronisieren, aber auch desynchronisieren. Wann die Neuronen ihre Signale abfeuern, hängt ab von einem Schwellenwert, der sich ständig ändert. Neuronen reagieren unterschiedlich und willkürlich auf Reize, so dass aufs Ganze gesehen ein überwältigendes neuronales Rauschen entsteht, das sozusagen den Standardmodus der Informationsverarbeitung unseres Gehirns – also unseres Denkens und unserer bewussten Handlungen – darstellt. Zuwenig oder zuviel Hirnrauschen führen zu Anomalien des Modus.
ADHS: Rauschen statt Medikamente
Dann sprechen wir von Krankheit. Der schwedische Psychologe Göran Söderlund hat eine äusserst bedenkenswerte Hypothese aufgestellt: Rauschen könnte therapeutisch wirken. Genauer: Das allgegenwärtige Umgebungsrauschen, in das wir getaucht sind, könnte möglicherweise einem Kind mit ADHS helfen. ADHS ist eine Störung im Neurotransmitterhaushalt des Gehirns. Neurotransmitter wie zum Beispiel Dopamin fungieren als regelnde Botenstoffe zwischen den Neuronen, insbesondere zwischen den Arealen, welche Aufmerksamkeit, Konzentration, Impulskontrolle steuern. Aus Mangel an sogenannt tonischem Dopamin in den Synapsen, das für Konstanz der Konzentration sorgt, reagieren ADHS-Patienten hypersensibel auf jedwede Umweltreize (auch Inweltreize). Sie werden quasi „vollgerauscht“.
Die Idee der stochastischen Resonanz suggeriert nun, dass durch gezieltes Umweltrauschen die Dopaminausschüttung stimuliert, und damit die Konzentrationsfähigkeit des ADHS-Gehirns verbessert werden könnte – also die gleiche Wirkung zeitigt wie etwa Amphetamine. Der Kognitionswissenschafter Andrew Smart verfolgt diese Idee experimentell. [1] Er beobachtete Kinder mit ADHS bei einer speziellen Errinerungsaufgabe; sie mussten Quadrate in einem Gitter lokalisieren, die sie nur eine Sekunde lang gesehen hatten. ADHS-Kinder konnten zwei bis drei Quadrate richtig lokalisieren. Mit Hintergrundrauschen „behandelt“, waren sie in der Lage, fünf bis sieben Quadrate wiederzuerinnern. Im Elektroenzephalogramm zeigte sich eine entsprechend erhöhte Gehirnaktivität bei Hintergrundrauschen. Smart spricht von einem „dramatischen Anstieg bei der Reaktionsstärke.“
„We would prefer not to“
Viele ADHS-Forscher gehen von der Vermutung aus, dass die Zunahme an Aufmerksamkeitsstörungen paradoxerweise auf ein soziales und berufliches Umfeld zurückzuführen ist, das Aufmerksamkeit in ungesundem Übermass fordert. Das heisst, wir entwickeln uns zunehmend zu 24/7-Wesen, Menschen, die 24 Stunden am Tag und 7 Tage die Woche abrufbar und dienstbar sind. Infolge dieser Dauerbereitschaft, die durch das Internet gefördert wird, verlieren wir die Fähigkeit, auf schwache Signale in uns und um uns zu hören und Zusammenhangsloses zu verknüpfen. Dazu müssten wir ja auf ein Rauschen eingestellt sein, das nur zu wirken beginnt, wenn wir „loslassen“, müssig werden, wenn wir eine Kompetenz zum Nichtstun entwickeln. Das geschieht auf individueller Ebene durchaus. Man erinnert sich an den Angestellten Bartleby in Hermann Melvilles Erzählung „Bartleby der Schreiber“. Er entzieht sich sanft den Anforderungen der öden Büroarbeit mit den berühmten Worten „I would prefer not to“. Es gibt wahrscheinlich zunehmend postindustrielle „Arbeitnehmer“ mit Bullshit-Jobs, die mit ganzem Herzen in den Spruch einstimmen würden. Man stelle sich für einen Augenblick vor, die Worte schwellten an zu einem kollektiven „We would prefer not to“ ...
Der Wind bläst in uns
Wir tragen vieles in unserem Unbewussten mit uns herum: Erinnerungsfragmente, Namen, halbgare Gedanken, Satzfetzen, verwehte Worte – schwache Signale, die nur darauf warten, in stochastischer Resonanz zu irgendeinem Rauschen ins Bewusstsein gehoben zu werden. Rauschen ist in diesem Sinn „das“ Medium zwischen Diffusem und Artikuliertem.
Der Wind bläst in uns. Die Welt ist ein einziges Rauschen, visuell und auditiv. Wir tun gut daran, dieses Rauschen nicht als Störung abzutun, sondern als vitales Element eines gesunden geistigen Lebens zu akzeptieren. Vielleicht hören wir Unerhörtes, sehen wir Ungesehenes, bildet sich aus dem Rauschen eine Gestalt wie eine Epiphanie. Und spielen wir zum Schluss mit einer Vermutung: Sich dem zärtlichen Rauschen der Welt überlassen – könnte das ein Glückszustand sein?
[1] Sein Buch hat mich auch zu diesem Text inspiriert.
Andrew Smart: Öfter mal auf Autopilot: Warum Nichtstun so wichtig ist; München, 2014.