Um drei Minuten vor Mitternacht war diese Europa-Meisterschaft zu Ende. Der italienische Torhüter Gianluigi Donnarumma hielt einen Penalty des Engländers Bukayo Saka. Damit war Italien, der vierfache Weltmeister, zum zweiten Mal Europameister. Und die Engländer schafften es auch nach 55 Jahren nicht, einen wichtigen Titel zu holen.
In Hunderten italienischen Dörfern und Städten, von Como bis Syrakus, gingen Feuerwehrraketen los. In den Strassen wurden Fahnen geschwenkt, stundenlang wurde gehupt, umarmt, geküsst.
Da und dort wurde bis tief in die Nacht die Nationalhymne gesungen. In Rom rannten junge Frauen weinend durch die Strassen und küssten Polizisten, die für die Sicherheit sorgten. Auf der Piazza del Popolo umarmten sich wildfremde Menschen. Junge Leute, die sich nicht kannten, hoben sich in die Höhe und lachten. „Wir sind wieder wer“: Freudentaumel in einem Land, das sich auch durch den Fussball definiert.
„I campioni siamo noi“, schreibt der Mailänder Corriere della sera. „L'Europa è nostra“, titelt die Römer Zeitung La Repubblica.
Im Hemd im englischen Regen
Der Sieg ist Balsam auf die italienische Seele. Er bringt dem Land moralischen und wirtschaftlichen Auftrieb. (Siehe auch: Journal21: Ekstase).
Nach der regulären Spielzeit und der Verlängerung stand es 1:1. Dann das Nerven strapazierende Penalty-Schiessen. Die beiden Torhüter umarmten sich, bevor es losging. Roberto Mancini, der immer coole italienische Fussballtrainer, zog seinen Kittel aus und stand nun im weissen Hemd mit Krawatte im englischen Regen.
„Bella Ciao“ im Wembley Stadion
Das Elfmeterschiessen brachte zunächst einen Vorteil für die Engländer, doch dann obsiegten die Italiener. Der italienische Torhüter Gianluigi Donnarumma wird nun endgültig zum Nationalheiligen.
Roberto Mancini kniete nieder. Tränen standen auf seinem Gesicht, innige Umarmungen hier und dort. Die riesige, wochenlange Anspannung war weg. Die Tifosi im Stadion jubelten und sangen italienische Volkslieder: „Bella Ciao“ im Wembley-Stadion.
50’000 vs. 12’000
Es war ein Heimspiel für die Engländer. 50’000 englische Fans jubelten den Three Lions zu. Ihnen standen nur etwa 12’000 Italiener gegenüber. Die meisten von ihnen leben und arbeiten in Grossbritannien. Nur etwa 1000 Tifosi waren zum Final aus Italien angereist. Premierminister Boris Johnson hatte sie aufgefordert, sich wegen der Pandemie möglichst kurz in London aufzuhalten.
Die Italiener genossen im Stadion auch die Unterstützung vieler der wenigen Schotten, Nordiren und Waliser. Sie machten keinen Hehl daraus, dass sie sich eine Niederlage der Engländer wünschten.
„Britische Arroganz“
Im Gegensatz zu den Engländern hatten sich die italienischen Medien in den letzten Tagen vorsichtig und eher bescheiden gegeben. Die Engländer sind stark, hiess es immer wieder. Und auch Roberto Mancini erklärte, ein Sieg der Briten sei durchaus möglich. Der Trainer gab sich staatsmännisch bescheiden: „Wir müssen ruhig bleiben und uns auf unser Spiel konzentrieren. Ich habe den Jungs gesagt: Lasst uns noch einmal Spass haben, es ist die letzte Chance dazu.“
Die Engländer hingegen sahen sich bereits als Sieger und machten die Azzurri lächerlich. Italienische Medien sprachen von „britischer Arroganz“.
Kalte Dusche
Und wieder einmal irrten sich die Experten. Sie hatten einen Sieg der Engländer vorausgesagt. Der englische Sport-Analytiker Simon Gleave sagte: „Die Engländer haben eine Chance von 53,5 Prozent, zum ersten Mal Europameister zu werden.“ Auch die Buchmacher tippten mehrheitlich, wenn auch knapp, auf England.
Dabei hatte alles für die Italiener mit einer kalten Dusche begonnen. Schon in der dritten Minute gingen die Engländer in Führung. Den Italienern gelang es zunächst nicht, das Spiel in die Hände zu nehmen. Dann, in der zweiten Halbzeit, drehten sie auf und rissen die Partie an sich. In der 62. Minute hatte Federico Chiesa den Ausgleich auf dem Fuss. In der 67. Minute gelang dann Leonardo Bonucci ein wunderschönes Tor: 1:1. Das Fernsehen zeigte versteinerte Gesichter der Engländer. Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella, der etwas einsam auf der Ehrentribüne sass, riss vor Freude die Arme in die Höhe. Jetzt endlich kam Stimmung auf, und die wenigen Tifosi – nach dem schnellen Führungstor der Engländer etwas eingeschüchtert – machten sich laut bemerkbar.
Riesige Einschaltquoten
Das Finale war in Italien zu einem nationalen Ereignis hochstilisiert worden. Die TV-Einschaltquoten waren entsprechend hoch.
Das Halbfinalspiel zwischen Italien und Spanien vom vergangenen Dienstag wurde am Fernsehen von 17,2 Millionen Italienerinnen und Italienern verfolgt. Die Einschaltquote betrug 68,8 Prozent. Es ist anzunehmen, dass dieser Wert am Sonntag weit übertroffen wurde. Definitive Zahlen werden erst am Montag bekannt. Experten rechnen mit über 25 Millionen. Selbst der Osservatore Romano, die Vatikan-Zeitung liess durchblicken, dass auch der Papst, der als Fernseh-Muffel gilt, sich das Spiel angeschaut hat.
Übertragen wurde das Spiel auf dem ersten öffentlich-rechtlichen Kanal Rai und auf Sky. Die Rai-Übertragung kommentierten Stefano Bizzotto und Katia Serra. Es ist das erste Mal, dass eine Frau ein wichtiges Finalspiel mitkommentiert – ausgerechnet in der italienischen Männerdomäne Fussball.
100 Millionen Zuschauer?
Eine Rekordeinschaltquote wird auch in Grossbritannien erwartet. Als vor 55 Jahren England gegen Deutschland spielte, schauten sich 32,3 Millionen Britinnen und Briten das Spiel am TV an. Bis zum Sonntag wurde dieser Wert nicht übertroffen. Es wird erwartet, dass es diesmal weit mehr waren.
Italienische Journalisten in Rom rechnen, dass sich in Europa insgesamt über 100 Millionen Zuschauerinnen und Zuschauer das Spiel anschauten.
„It's coming home“?
Viele der Engländer, die aus der Provinz nach London geströmt waren, hatten die Nacht auf Bänken in den Parks verbracht. Kaum jemand trug eine Maske, obwohl die Ansteckungsrate in Grossbritannien wieder stark steigt. Schon am Samstagabend tranken sie und johlten bis tief in die Nacht. „It's coming home“, skandierten sie stundenlang. „It's coming to Rome“, spottete dann am Montag CNN.
Schon am Sonntagvormittag hatte sich der Olympic Way (Wembley Way), die Strasse, die zum Stadion führt, mit johlenden Engländern gefüllt. Auf den elektronischen Tafeln in den Underground-Stationen wurde der englischen Mannschaft viel Glück gewünscht. Um 17.00 Uhr, vier Stunden vor Matchbeginn, wurden die Tore im Wembley-Stadion geöffnet.
Keine Wiederaufstehung des Mutterlands des Fussballs
Auf der Ehrentribüne sassen neben dem italienischen Staatspräsidenten auch Prinz William und seine Frau Kate. Und natürlich waren auch Filmstars und VIPs dabei, die sich wieder einmal zeigen wollten. Prinz William hatte vor dem Spiel seiner Mannschaft via Instagram eine Botschaft geschickt: „Bringt ihn (den Titel) nach Hause. Die ganze Nation ist mit euch.“
Doch Gianluca Donnarumma vereitelte die Wiederauferstehung des Mutterlands des Fussballs.