Der Bundesrat hat die Massnahmen gegen die Corona-Pandemie radikal gelockert. Die Zertifikatspflicht ist aufgehoben, die Maske gilt nur noch im ÖV und in Spitälern. Die meisten freut das. Andere kriegen jetzt ein Problem. Ein Kommentar.
Zwei Jahre lang wurde der Bundesrat verteufelt und kriegte Morddrohungen. Hunderte, manchmal Tausende gingen auf die Strasse und schrien sich ihre Wut von der Seele. Obskure Vereinigungen formierten sich. Einige sprachen von «Diktatur», von «Verbrechen gegen die Menschlichkeit». «Wir wollen die Freiheit zurück», pöbelten andere.
Einige radikalisierten sich und verloren völlig den Boden unter den Füssen. Strafrechtlich relevante Drohungen wurden ausgesprochen. «Die Grundrechte und die Demokratie unserer Väter sind in Gefahr», hiess es.
Viele Medien spielten mit und berichteten über jede noch so kleine Aufwallung der Impfgegner und Konsorten. Selbst angebliche Qualitätszeitungen konnten nicht immer stolz auf ihre Berichterstattung sein.
Und jetzt? Am Mittwoch hat der Bundesrat die meisten Corona-Massnahmen aufgehoben. Die Zertifikatspflicht und die Home-Office-Empfehlungen entfallen. Die Maskenpflicht soll nur noch im ÖV und in Gesundheitseinrichtungen gelten, entfällt aber am Arbeitsplatz, in Läden, in Innenbereichen von Restaurants und bei Veranstaltungen. Positiv getestete Menschen müssen weiterhin in Isolation. Bei der Einreise in die Schweiz gibt es keine Vorgaben mehr.
Also keine «Diktatur» mehr, keine «Verbrechen gegen die Menschlichkeit».
Den Impfgegnern, den Querdenkern, den Radaubrüdern, den Esoterikern, den Verschwörern, den rechten Libertären, den Rechtsextremen und anderen Irren ist der Feind abhanden gekommen. Gegen was soll man jetzt toben? Gegen was protestiert man jetzt? Es war doch so schön, wenn man am Samstag oder Sonntag sich gemeinsam traf, Kuhglocken schwenkte und die Wut rauslassen konnte.
Doch diese Wut war vielschichtiger als eine Wut auf die Corona-Massnahmen. Es mag ja überzeugte, ehrliche Impfgegner geben. Diese sind zwar eine winzige Minderheit. Bei den meisten jedoch ging es gar nicht ums Impfen. Die meisten waren Trittbrettfahrer.
Hier machte sich im Zuge der Impfdemonstrationen eine Wut auf vieles breit: auf die «in Bern da oben», auf die «Mainstream-Medien», auf Autoritäten jeder Art, auf die Pharma-Industrie, die nur verdienen will, auf die Wissenschaftler, die den Impfgegnern vorhielten, wie unsinnig ihre Argumente sind, auf mangelnde Zukunftsperspektiven: auf die Tatsache, dass es einem im Leben nicht so gut geht, wie man eben möchte.
«Corona ist nur ein Anlass, ein Aufhänger für diese Wut und Aggression», schrieb die Süddeutsche Zeitung. Oder, wie es ein amerikanischer Psychologe sagte: «Hier geht es um Lebensfrust.» Eine angestaute Wut gegen irgendetwas fand bei diesen Demonstrationen ein Ventil. «Sie reden von Sorge um die Freiheit», hiess es in der NZZ, «doch eigentlich geht es um Frustrationen.»
Plötzlich ist jetzt der Feind verschwunden. Es wird nun schwierig, gegen Pandemie-Massnahmen zu demonstrieren, wenn die Massnahmen nicht mehr da sind. Es wird schwer jetzt, von Diktatur zu sprechen.
Doch die Frustrationen, die Wut und der Hass werden bleiben. Das Zugpferd allerdings, das die Wutbürger einigte, wird jetzt fehlen.
Hören jetzt die Demonstrationen und die Hasstiraden auf? Kaum. Das Problem der Protestierenden besteht jetzt darin, neue Vorwände zu finden, um den Frust abzuladen. Vor allem müssen sie die verschiedenen Segmente des Protestes zu einigen versuchen und vor ein gemeinsames Zugpferd spannen. Das wird nicht einfach sein. Sie werden wieder von «Freiheit» und «Menschenrechten» säuseln, als ob die Freiheit und die Menschenrechte in der Schweiz in Gefahr wären. Die Gefahr für sie besteht, dass das Zugpferd schnell zu einem lahmen Ackergaul wird.
Fürs Erste ist die Luft draussen. Vielleicht nehmen die Rebellen dann doch einmal zur Kenntnis, dass die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung sie nicht unterstützt. Doch wir wissen es: Mit Aufklärung, mit vernünftigen Argumenten sind unvernünftige Leute nicht zu erreichen.