Daniel Blake, ein verwitweter Schreiner im englischen Newcastle, gerät in die Mühlen des Sozialsystems. Er ist kein Gutmensch, aber empathisch. Und ein Kerl mit Gerechtigkeitssinn, der sich nicht alles gefallen lässt. Damit passt er punktgenau in einen Film von Ken Loach. Denn der Achtzigjährige Brite weiss, wie man Geschichten von Menschen verbildlicht, die mit den Normen von verbürokratisierten staatlichen Institutionen nicht zu Rande kommen.
Die Endlosschleife
Alles beginnt mit einem Telefongespräch zwischen einer roboterhaften Dame der Gesundheitsbehörde und dem 59-jährigen Blake. Der hat einen Herzinfarkt erlitten und möchte nun beim Amt für „Employment and Support Allowance“ Krankengeld beantragen. Doch schon wiehert der Amtsschimmel kräftig: Blake muss stupide Fragen seine Fitness betreffend beantworten und wird als arbeitsfähig eingestuft.
Obwohl ihm ärztlich bestätigt worden ist, dass er keinesfalls arbeiten darf. Hält man ihn also für einen Simulanten und Drückeberger? Jedenfalls wird er genötigt, sich pro forma um Jobs zu bewerben, für die er nicht geeignet ist, um überhaupt Aussicht auf Arbeitslosengeld zu haben
Ein administrativer Leerlauf folgt dem nächsten. Und bald landet Blake in der Endlosschleife eines entmenschlichten, seelenlosen Sozialsystems. Dass der Bittsteller alle Abläufe online abwickeln muss, bringt ihn vollends in Rage: von Computern, Internet, Social-Media-Gedöns hat er nämlich null Ahnung.
In der Bruchbude
Blake stinkt es gewaltig. Aber er behält seine Sozialkompetenz. Auf dem Amt lernt er die Leidensgenossin Katie Morgan (Hayley Squires, ganz famos) kennen, eine junge Mutter von zwei Kindern. Die drei sind von den Behörden in London nach Newcastle abgeschoben worden und fast mittellos. Als Bleibe hat man ihnen zwar eine Wohnung zugewiesen. Doch sie ist eine Bruchbude: Es gibt keinen Strom, dafür eine defekte Toilette.
Um wenigstens etwas zu verdienen, ist Katie – eine couragierte, warmherzige Person – bereit, sich zu prostituieren. Gut, dass da einer uneigennützig seine Flügel ausbreitet: Blake, der weiss, wie praktisch angewandte Mitmenschlichkeit geht. Er bringt Katies Wohnung auf Vordermann und kümmert sich – so gut es eben geht – um die Kids. Doch wo soll das alles hinführen?
Authentizität
Ken Loach war und bleibt im Kinobereich einer der streitbarsten Kämpfer für soziale Gerechtigkeit. Wie meistens arbeitet er wieder mit seinem Hausautor Paul Laverty zusammen, schart exzellente Schauspieler um sich. Etwas aber ist in „I, Daniel Blake“ neu: Loach drosselt die bestbekannte bissige, schwarz-humorige, offensive Tonalität seiner Protagonisten. Also das, was seinen besten Werken jeweils einen besonderen ironischen Schwung verliehen hat.
Der „Büezer“ Daniel Blake – grossartig interpretiert vom Stand-Up-Comedian Dave Johns – bleibt also auch im Stress bei aller Sturheit auffallend kontrolliert, verstrahlt unaufgesetzte Gelassenheit. Man mag diesen Mann, weil er bis ins Mark authentisch ist und Verantwortung übernimmt.
Reduktion auf das Wesentliche
Nach der Premiere am Filmfestival Cannes im Mai 2016 notierten einige Kritiker, Loach habe in Bezug auf ironische Schärfe und anarchistische Energie nachgelassen; der Film sei eben ein typisches Alterswerk. Ein lauwarmer Aufguss der früher gefeierten Plädoyers für proletarische Underdogs, nicht nur im abgewirtschafteten Britannien.
Das kann man auch ganz anders sehen: „I Daniel Blake“ ist – noch mehr als Loach-Werke sonst – in einem Dokumentarfilm-ähnlichen Raster verankert, Reportageartig geschnitten, etwas distanziert und karg erzählt. Warum das? Vielleicht, weil der erfahrene Loach früher als andere begriffen hat, dass man auf den permanent wabernden High-Tech-Informations-Aktionismus im Hier und Jetzt kontrapunktierend reagieren muss: mit einer filmisch-narrativen Reduktion auf das Wesentliche, formal wie in den Dialogen. Wobei dieses ja Qualitäten sind, die notabene das urbane Autorenkino einst sinnhaltig gemacht haben.
„Goldene Palme“ in Cannes 2016
Lässt man sich auf „I, Daniel Blake“ ein, wird klar: Ken Loach schafft es weiterhin, seinen Zuschauern – durchaus mit einem gewissen missionarischem Eifer und fernab von Altersweisheit – den Spiegel vorzuhalten. Intellektuell hellwach stellt er die Frage: Wie geht die globalisierte Gesellschaft mit ihren verbürokratisierten Sozial-Institutionen eigentlich mit den Daniel Blakes und Katie Morgans um? Also mit den sogenannten “Abgehängten“, den Alleingelassenen, den resignierten Älteren, den perspektivlosen Jungen?
Loach hat für „I, Daniel Blake“ in Cannes 2016 die „Goldene Palme“ erhalten, zum zweiten Mal in seiner Karriere. Wer offenen Herzens über diesen Film nachdenkt, erkennt: Die Wahl macht Sinn.
Starttermin des Films in den Kinos der deutschen Schweiz ist der 8. Dezember.