Verbale Prügel en masse muss die SP zurzeit einstecken. Die Partei reite ihre ideologischen Streckenpferde und habe jeden Bezug zur Realität verloren, schreiben die Politkommentatoren in den Zeitungen. Auch die von den Medien zitierten Experten stimmen in den Chor ein. Mit ihrem neuen Parteiprogramm und dem doppelten Nein bei der Ausschaffungsabstimmung sei die Partei äusserst schlecht in das kommende Wahljahr gestartet und werde so nie und nimmer Wähler aus den liberalen Mittelschichten gewinnen können, sagen sie voraus. Noch eins darauf setzt der frühere SP-Nationalrat Rudolf Strahm. Er spricht von einer geradezu tragischen Entwicklung. „Die SP hat den Einstieg zum Abstieg eingeläutet“, lautet denn auch die Überschrift zu seinem Kommentar für das Newsnetz des Tages-Anzeigers.
Nein zur Armee, ja zur EU
Richtig ist, dass die SP in ihrem Programm auch Positionen vertritt, die wahrscheinlich eine Mehrheit der Schweizer nicht teilt. Doch der Ruf nach Abschaffung der Armee und nach Beitrittsverhandlungen mit der EU ist nicht derart weltfremd und extrem, wie sie das die Kritiker nun darstellen. Immerhin haben im Jahr 1989 über 35 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer Ja zur Abschaffung der Armee gesagt. 2001 erzielte eine zweite Abschaffungsinitiative noch 22 Prozent Ja-Stimmen. Das ist immer noch weit mehr als der Wähleranteil von 19,5 Prozent, den die SP bei den letzten eidgenössischen Wahlen erzielt hat. Und warum darf die SP nicht einen künftigen EU-Beitritt anstreben? Ist die für unsere Zukunft wichtige Frage eines EU-Beitritts denn zu einem Tabu geworden, nachdem sich auch die FDP sich davon verabschiedet hat?
Gewiss werden nicht wenige SP-Wähler anderer Meinung sein als die Mehrheit der Delegierten, die diesen Punkt ins Programm hineingeschrieben haben. Doch es wäre seltsam, wenn keine einzige Partei mehr Beitrittsverhandlungen befürworten würde. Wahlen machen in einer Demokratie nur dann Sinn, wenn Parteien antreten, die dem Volk programmatische Alternativen anbieten und einen echten politischen Entscheid ermöglichen. Schliesslich sollen Wahlen in einer Demokratie mehr sein als eine blosse Schönheitskonkurrenz.
Eine Unique selling Proposition
Man kann von einem EU-Beitritt und der Abschaffung der Armee halten was man will. Eines muss man der SP zugestehen. Sie vertritt damit Positionen, die kaum mehr eine andere Partei zur Diskussion stellen will. Das muss kein Nachteil für die Partei sein. Eine Schweiz ohne Armee und eine Schweiz innerhalb der EU. Das sind mutige Forderungen mit denen sich die Partei aus dem Einheitsbrei der Mitteparteien hervorhebt. In der Sprache der Marketingfachleute könnte man gar von einer USP, einer Unique selling proposition der SP, reden. Es geht um ein politisches Angebot der SP an die Wählerinnen und Wähler, das sich von den vielen andern, wenig profilierten Parteiprogrammen hierzulande klar unterscheidet.
Ob das Programm und die Abstimmungsparole zur Ausschaffung die Chancen der SP schmälern oder umgekehrt sogar erhöhen, kann niemand mit Sicherheit voraus sagen. Die SP hat in den Medien nicht viele Freunde und wird mit Vorliebe als zu links und gestrig kritisiert. Seit Jahren empfiehlt der Mainstream-Journalismus der Partei, sie solle sich doch bitte mehr zur Mitte hin bewegen. Ausgerechnet dorthin, wo sich heute schon ein halbes Dutzend Parteien tummelt! Manche der Vorwürfe an die SP klingen seltsam widersprüchlich. So wenn es heisst, die Partei vertrete nicht mehr die Anliegen der Arbeiterschaft und bald darauf der Vorwurf ertönt, die Partei lasse sich die politische Agenda zu stark von den Gewerkschaften, also der Interessenvertretung der Arbeiterschaft, diktieren.
Richtig an dieser Diagnose ist nur etwas. Der klassische Industriearbeiter existiert kaum mehr, und von den wenigen die übrig geblieben sind, sind die meisten Ausländer, die bei Wahlen und Abstimmungen nichts zu sagen haben. Deshalb muss die SP versuchen, aus der liberalen Mittelschicht neue Wählerinnen und Wähler zu gewinnen, wenn sie überleben will.
Parteiprogramme sind nicht das Mass aller Dinge
Doch gerade in diesem Wählersegment nehmen viele die SP ganz anders wahr als die Politexperten. In den Augen mancher potentieller Wähler ist die Partei in den letzten Jahren zu brav geworden und zu wenig kämpferisch aufgetreten. Für sie gibt die SP das Bild einer alten politischen Kraft ab, die als Regierungspartei etwas gar selbst zufrieden geworden ist. So sind die Sozialdemokraten ein Jahr vor den Eidgenössischen Wahlen in einer wenig komfortablen Ausgangslage. Doch wer nach den Beschlüssen vom Wochenende bereits den unaufhaltsamen Niedergang und den Untergang der SP herbei schreibt, vergisst etwas: Parteiprogramme sind nicht das Entscheidende. 99,9 Prozent der Wählerinnen und Wähler werden keine Minute mit der Lektüre der verschiedenen Programme verbringen. Und auch bei den Journalisten dürften diese nicht zur bevorzugten Lektüre gehören. Massgebend ist die praktische politische Arbeit, das was die Parteien mit ihren Vorstössen konkret zu ändern versuchen.
Nun hat die SP-Delegiertenversammlung am vergangenen Wochenende nicht nur mit der Armee-Abschaffung und dem EU-Beitritt für Schlagzeilen gesorgt, sondern auch mit dem Ruf nach einer Überwindung des Kapitalismus. Mit dieser Absichterklärung dürften vor allem viele Deutschschweizer Parteimitglieder ihre liebe Mühe haben. Auch Parteipräsident Levrat hätte sich eine andere Formulierung gewünscht. Doch in Lausanne haben sich die eher dem linken Parteiflügel zuzurechnenden welschen Delegierten und die Jungsozialisten durchgesetzt. Die Juso haben die Erfahrung gemacht, dass man nur mit Provokationen und Aufsehen erregenden Vorstössen eine Chance hat, von den Medien wahrgenommen zu werden. Und auch beim SP-Programm verhält es nicht viel anders.
Das altbackene Schlagwort vom Kapitalismus
Über ein mangelndes Echo in den Medien kann sich die SP seither wahrlich nicht beklagen. Doch Schlagzeilen allein bringen die Partei nicht weiter. Viele potentielle SP-Wähler greifen sich bei diesem Satz an den Kopf und fragen, was will uns die SP damit sagen? Wie will die Partei den Kapitalismus überwinden, und was soll an seine Stelle treten? Zugegeben: das Programm versucht hier Antworten zu geben, doch bleiben diese wie der Ruf nach einer Demokratisierung der Wirtschaft einigermassen nebulös.
Auf der anderen Seite gibt es breite Kreise in der Bevölkerung, die mit der SP soweit einig sind, dass das kapitalistische Wirtschaftssystem von heute seine Schattenseiten aufweist. Viele Schweizerinnen und Schweizer erwarten, dass etwas getan wird gegen Abzocker, grenzenloses Profitdenken und eine ungerechte Steuerpolitik. Viele wollen nicht hinnehmen, dass die Reichsten bei uns immer weniger Steuern zahlen müssen. Und manche bauen darauf, dass eine Partei wie die SP hier Gegensteuer gibt. Tatsächlich hat die Partei denn auch Initiativen und Vorstösse lanciert, die darauf abzielen, extreme Ungerechtigkeiten bei der Besteuerung und den Löhnen zu bekämpfen. Mit solchen konkreten Vorstössen kann die Partei punkten, nicht mit abstrakten, altbacken klingenden Schlagworten.
Abstimmungsparolen haben wenig Gewicht
Nicht nur die Bedeutung des Parteiprogramms, sondern auch der Stellenwert von Abstimmungsparolen wird nach den Entscheiden der SP vom Sonntag derart empor stilisiert, dass es grotesk anmutet. Match entscheidend sind solche Parolen noch nie gewesen. Die Mehrheit der Stimmberechtigten dürfte diese kaum zur Kenntnis nehmen. Entscheidend für die Stimmabgabe sind in erster Linie das Thema der Abstimmung und das Ausmass und die Durchschlagkraft der Werbekampagnen. Das gilt bei der Ausschaffungsabstimmung noch stärker als sonst. Für manche Bürger genügen das Stichwort „kriminelle Ausländer“, um unbesehen Ja zur Initiative zu sagen. Die Parteiparolen interessieren die Gläubigen so wenig wie der genaue Inhalt der Abstimmungsvorlagen.
Wenn man jetzt der SP wegen des Neins zum Gegenvorschlag die Schuld daran in die Schuhe zu schieben versucht, wenn sich die SVP-Initiative durchsetzen sollte, ist das absurd. Die SP war von Anfang an dafür, diese extreme, alle Grundsätze des Rechtsstaates negierende Initiative für ungültig zu erklären. Die Mitteparteien schreckten jedoch davor zurück und versuchten, mit ihrem Gegenvorschlag der SVP-Initiative den Wind aus den Segeln zu nehmen. Gewiss ist dieser Gegenvorschlag um ein Vielfaches besser als die Initiative, garantiert er doch, dass vor einer Ausschaffung geprüft wird, ob diese im konkreten Fall mit unserer Verfassung und dem Völkerrecht vereinbar ist. Deshalb kann man aus taktischen Überlegungen durchaus Ja zu dieser Variante sagen, selbst wenn man das geltende Recht für genügend hält. Doch Taktik ist nicht alles, wenn es sich um einen Entscheid geht, der viele Menschen ganz existentiell treffen wird.
Bei dieser Abstimmung geht es nicht darum, einen Sieg der SVP zu verhindern. Es geht vielmehr darum, wie wir die seit langem hier lebende ausländische Wohnbevölkerung behandeln wollen. Sollen die hier aufgewachsenen Ausländer gleich bestraft werden wie die Schweizer? Oder sollen sie wie Kriminaltouristen nach der Strafe auch noch aus ihrem Umfeld herausgerissen werden? Wenn jene Sozialdemokraten, die ein 2-Klassen-Strafrecht grundsätzlich ablehnen, hier ihrer Überzeugung treu bleiben wollen, ist das verständlich.
Für ein Ja zum Gegenentwurf müssen andere sorgen
Nicht nochvollziehbar ist es, weshalb man ausgerechnet von der SP die Rettung des von den Mitteparteien lancierten Gegenvorschlags erwartet. Wer von diesem Gegenvorschlag überzeugt sei, so sagt man sich bei der SP zu Recht, soll sich bitte selber dafür einsetzen. Doch davon ist kaum etwas zu spüren, auch wenn sich das Komitee noch in letzter Minute zu einer Inseratenkampagne aufraffen sollte. Bezeichnend ist, wie wenig präsent der Gegenvorschlag im Internet ist. Wer mit der gütigen Hilfe von Google nach einem Argumentarium des Befürworter-Komitees sucht, wird jedenfalls seine liebe Mühe haben, etwas zu finden. Offenbar ist es den Mitteparteien einigermassen egal, was bei der Abstimmung vom 28. November herauskommt.