Der Krieg in der Ukraine verdeutlicht den Stellenwert seriöser Kriegsberichterstattung. Was und wie sollen Medien unter erschwerten Umständen von der Front berichten? In der dritten Folge der vierteiligen Sommerserie «Krieg und Frieden» geht die Sendung «Club» von SRF am 2. August 2022 solchen Fragen nach. Der Autor hat die Diskussion vor der Ausstrahlung ansehen können.
«Club»-Moderatorin Barbara Lüthi erwähnt es an einer Stelle der 80-minütigen Diskussionssendung: Es sind diesen Sommer 50 Jahre her, seit ein Bild des AP-Fotografen Nick Ut aus Südvietnam die Welt erschüttert hat. Die Aufnahme zeigt die neunjährige Phan Thi Kim Phúc, wie sie am 8. Juni 1972 auf einer Strasse mit ausgestreckten Armen, vor Schmerz schreiend und ohne Kleider vor einem Napalm-Angriff auf ihr Dorf Tràng Bàng flieht.
Das Schwarzweissbild, mit einer Leica M2 aufgenommen, schockierte die amerikanische Öffentlichkeit und gewann 1973 einen Pulitzer-Preis. Unter Umständen half das Foto «Napalm Girl» sogar mit, Amerikas Krieg in Südostasien rascher zu beenden. Auf jeden Fall war es ähnlich aufrüttelnd wie die Aufnahme «Saigon Execution» von AP-Fotograf Eddie Adams, die dokumentiert, wie am 1. Februar 1968 Saigons Polizeichef auf offener Strasse einem gefangenen Vietcong eine Kugel in den Kopf jagt.
Krieg der Bilder
Kim Phúc hat überlebt und wohnt heute in Kanada. Ihren Peinigern hat sie vergeben und ist all ihrer Narben zum Trotz zu einer Botschafterin für Frieden geworden. «Dieses Bild wird mich stets daran erinnern, zu welch unaussprechlichem Übel die Menschheit fähig ist», hat sie in einem Meinungsbeitrag für die «New York Times» geschrieben: «Trotzdem hoffe ich, dass Frieden, Liebe, Hoffnung und Vergebung immer stärker sein werden als irgendeine Waffe.»
Nick Uts ikonische Fotografie ist ein Beispiel für die Bedeutung von Kriegsberichterstattung. Das gilt heute im Fall der Ukraine, wie es vor einem halben Jahrhundert für Vietnam galt. Zwar hat sich seither die Berichterstattung stark verändert: Vietnam war in erster Linie ein Krieg der gedruckten Presse und nur teils des Fernsehens, während die Ukraine in erster Linie ein Krieg der Bilder ist, seien sie aus dem Fernsehen oder den sozialen Medien und mitunter live.
Rolle der sozialen Medien
Wobei gerade soziale Medien, Plattformen wie Instagram, Facebook oder TikTok, die Kriegsberichterstattung rascher, roher und unmittelbarer machen. Eine Aufnahme, die für sich spricht wie «Napalm Girl», gibt es aus der Ukraine noch keine. Allenfalls ist es jenes irritierende Bild aus Butscha der Amerikanerin Carol Guzy, das den Kopf eines Toten zeigt, der mit offenen Augen in einem schwarzen Leichensack liegt. Der New Yorker Kriegsfotograf Ron Haviv, auch er in der Ukraine im Einsatz, meint in einem «Spiegel»-Interview, kein einzelnes Bild könne den Krieg komplett abbilden: «Aber wahrscheinlich wäre es ein Foto, das die ethnischen Säuberungen dokumentiert.»
«Das Medium ist die Botschaft», wusste bereits der kanadische Kommunikationstheoretiker Marshall McLuhan und so arbeiten denn drei der vier Diskutanten im «Club» mit bewegten oder statischen Bildern: Luzia Tschirky, die als Korrespondentin für SRF über Russland und die Regionen der früheren Sowjetunion berichtet; Frederick Pleitgen, Senior International Correspondent von CNN, der 2004 als Reporter beim Tsunami in Asien vor Ort war; Dominic Nahr, Fotograf und Bildredaktor der NZZ, der mehrere Jahre lang als Kriegsfotograf, unter anderem in Afrika, unterwegs war. Das Trio ergänzt die freie Journalistin und Schriftstellerin Andrea Jeska, die 2005 durch ihr Erstlingswerk über die 331 Opfer des Terroranschlags auf die Schule Nummer 1 in einer nordossetischen Kleinstadt bekannt geworden ist: «Beslan, Requiem».
Ferner Alltag
Eines der aufschlussreichsten Themen, die in der Diskussion zur Sprache kommen, ist die Frage, was ein Krieg mit Medienschaffenden macht, ob er sie abstumpft, Schuldgefühle weckt oder die Rückkehr in den normalen Alltag erschwert. Unberührt, auf je eigene Weise, bleibt keiner und keine der «Club»-Diskutanten. Auch Andrea Jeska nicht, die ohne den Zwang, dramatische Bilder liefern zu müssen, ihre Geschichten fernab der Front findet und in erster Linie die Nähe zu Betroffenen sucht. Alle vier wissen sie, dass sie das Erlebte selbst verarbeiten müssen und eine gewisse Sprachlosigkeit ihnen zwangsläufig bleibt.
Der britische Kriegsfotograf Don McCullin, durch düstere Bilder aus Vietnam und Nordirland berühmt geworden, hat in diesem Kontext von der Schuld gesprochen, die er empfindet, weil er mit seiner Kamera in das Leben von Menschen eindringt, die grosses Leid erfahren haben. Er sagt, er habe seine Karriere auf dem Rücken von Leuten aufgebaut, die litten, und durch sein eigenes Verhalten seinen moralischen Kompass beschädigt. Schuld und Scham sind dabei das eine, die Verarbeitung von Trauma und Verletzung das andere. «Bei jedem meiner Einsätze geht etwas im Kopf kaputt – vielleicht auch im Körper», sagt Dominic Nahr.
Gefahr von PTSD
Psychiatrieprofessor Anthony Feinstein von der Universität Toronto, den der «Club» zitiert, studiert seit über 20 Jahren die psychische Befindlichkeit von Medienschaffenden, die über Krieg berichten. Er hat herausgefunden, dass sie im Vergleich zu anderen Journalistinnen und Journalisten einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, an posttraumatischer Belastungsstörung (PTSD) zu erkranken, vor allem dann, wenn sie über Jahre ihrem Job nachgehen, länger jedenfalls als die meisten Soldaten im Krieg.
«Soldaten hatten einen Einsatz, vielleicht auch zwei, und dann kamen sie nach Hause», schreibt Feinstein: «Wer aber verbringt schon 15 Jahre oder mehr an den schlimmsten Orten der Welt?» Trotzdem ist es unter Umständen auch heute für Betroffene noch ein Tabu, offen zuzugeben, an PTSD erkrankt zu sein.
Gefährdete Fairness
Ein weiteres wichtiges Thema, das der «Club» diskutiert, ist das der Objektivität: die Frage, ob es in einem Krieg wie dem in der Ukraine noch möglich ist, über beide Seiten gleich ausgewogen und unvoreingenommen zu berichten, und wie es sich vermeiden lässt, als Medienschaffende zu Aktivistinnen und Aktivisten zu mutieren – gemäss dem Diktum, wonach im Krieg das erste Opfer die Wahrheit ist. Die Diskutanten sind sich einig, dass es unabdingbar ist, der Wahrheit so nahe wie möglich zu kommen, auch wenn man «embedded», d. h. nur mit und auf einer Seite unterwegs ist, so traumatisch eine Erfahrung wie jene nach dem Massaker in Butscha auch sein mag.
In einer Untersuchung der Berichterstattung von 13 Schweizer Online-Medien über den Krieg in der Ukraine zwischen Januar und Mai 2022 kommt die Forschungsstelle Öffentlichkeit und Gesellschaft (Fög) der Universität Zürich zum Schluss, die Qualität der Berichte sei «bisher relativ hoch» gewesen. «Überdurchschnittlich hoch» sei mit 25 Prozent der Anteil der Einordnungsleistung an der gesamten Berichterstattung. Positiv bewertet das Fög auch den Umgang mit Bildern aus dem Krieg: Die Medien hätten solche zumeist vorsichtig publiziert und Tote oder Verletzte kaum problematisch dargestellt.
Externe Quellen
Gleichzeitig stellt die Fög-Studie eine hohe Abhängigkeit der Schweizer Medien von Nachrichtenagenturen, staatlich-militärischen Quellen und sozialen Medien fest: «Gerade durch die Abhängigkeit von solchen externen Quellen besteht das Risiko, dass Narrative von Kriegsparteien unkritisch übernommen werden.» Diese Abhängigkeit beruhte bei abonnierten Medien zu 10 Prozent auf Agenturmeldungen und bei SRF zu 32 Prozent. Abo-Medien stützen sich zu 32 Prozent auf Beiträge von Auslandkorrespondenten, das öffentlich-rechtliche SRF tat es zu 18 Prozent.
Insgesamt nimmt die Berichterstattung über das Geschehen in der Ukraine der Zürcher Forschungsstelle zufolge «einen hohen Stellwert» ein. Hatte anfänglich jeder zweite Medienbeitrag einen Bezug zum Krieg, so war es im Mai immerhin noch jeder fünfte. In diesem Kontext wird im «Club» die Frage laut, über welche Kriege wie berichtet wird und wie kulturelle Gegebenheiten den Entscheid beeinflussen. Im Fall der Kriege in Afghanistan und im Irak erlahmte das Interesse der Medien seinerzeit relativ rasch, während es in der Ukraine ungebrochen hoch scheint. Ein Umstand, der gemäss Andrea Jeska auch mit Postkolonialismus oder Rassismus zu tun haben könnte.
Wahrung der Würde
Einig sind sich die Diskutanten im «Club», dass es bei der Kriegsberichterstattung äusserst wichtig ist, die Würde der betroffenen Menschen zu wahren, seien sie tot oder lebendig. Das gilt vor allem für Bilder, wie sie nach mutmasslichen Kriegsverbrechen aus Butscha, Irpin oder Mariupol entstehen. Denn Bilder, ob bewegt oder statisch, haben Macht – der Flut von Aufnahmen zum Trotz, die aus sozialen Medien über die User hineinbricht. Er fotografiere, sagt Dominic Nahr, Menschen im Krieg nicht anders, als er Familienangehörige fotografiere.
Im Essay «The View from Here» über das Foto «Napalm Girl» für das digitale Magazin «Air Mail» hat sich der amerikanische Dokumentarfilmer Errol Morris unlängst mit der Frage beschäftigt, ob Menschen aus Kriegen etwas lernen oder ob sie dazu verdammt sind, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen, wie der spanische Philosoph George Santayana das postuliert. Der Titel seines preisgekrönten Dokumentarfilms aus dem Jahr 2003 über George McNamara, der während des Vietnamkriegs US-Verteidigungsminister war: «The Fog of War».
Errol Morris zweifelt an der Lernfähigkeit des Homo sapiens. Er kann aber Kim Phúcs Wunsch nachvollziehen, den Tätern zu verzeihen. Ihm bleibe lediglich, schreibt er am Ende seines Essays, einen Abschnitt aus ihrer Autobiografie zu zitieren: «Als der Krieg in mein Dorf Tràng Bàng kam, war es, als hätte jemand einen grossen Lichtschalter umgelegt; was hell und schön gewesen war, war nun kaputt und trüb. Verschwunden waren das Lachen und der Spass; verschwunden waren die fruchtbaren Obstbäume; vorbei waren die geruhsamen Tage und die Unschuld; vorbei war die Fülle in all ihren Erscheinungsformen. Die Napalmbomben fielen und alles explodierte – unser Hab und Gut, unsere Freiheiten, unsere Leben.»
SRF-Club: «Wie berichtet man aus dem Krieg?»; Teil 3 der Sommerserie «Krieg und Frieden»; Dienstag, 2. August 2022, 22:25 - 23:45 Uhr