«Nie wieder», schwört die deutsche Politik, wolle man wirtschaftlich von nur einem Lieferanten so abhängig sein wie beim Gas von Russland. Tatsächlich aber ist die Abhängigkeit von China längst viel grösser.
Das deutsche TV-Politmagazin «Report» berichtete unlängst von einem interessanten Test einer Familie in Hannover: Diese wollte herausfinden, ob es ihr gelänge, wenigsten zwei Tage lang ohne die Verwendung von Gerätschaften auszukommen, die als Ganze oder auch nur zu Teilen nicht aus China stammten. Das Ergebnis des Experiments: Das «Leben ohne» funktionierte nicht. Ob Kinderwagen, Spielzeugpuppe, Festnetz-Telefon, Smartphone, Computer, Arzneimittel, Kaffeemaschine – alles stammte entweder direkt aus dem «Reich der Mitte» oder enthielt zumindest wichtige Baustücke von dort. Und die selber erkannten und benannten Stücke machten sogar nur einen Teil des tatsächlichen familiären Haushaltsimports aus; ein speziell befragter Fachmann fügte der Liste noch zahlreiche weitere Artikel hinzu: LED-Leuchten, Nudelsieb, Pfannenwender usw. Kurz: Der Experte eröffnete dem staunenden Familien-Publikum, 95 Prozent des heute bei uns im Handel befindlichen Küchenhilfszeugs stamme aus China.
Erwacht aus der Traumwelt
Zurecht gelten gegenwärtig – keineswegs allein hierzulande – die Sorgen und Besorgnisse von Politik und Bürgern dem von Wladimir Putin befohlenen Überfall auf und dem damit verbundenen Eroberungskrieg gegen die Ukraine. Zugleich allerdings hat dieser Schlag gegen praktisch alle zuvor ausgehandelten internationalen Abmachungen und Verträge die deutsche Politik und den allergrössten Teil der Gesellschaft mit aller Brutalität aus ihrer selbst gewählten und daher auch lieb gewonnenen Traumwelt geweckt, mit dem Ende des Ost/West-Konflikts und der Wiedervereinigung Deutschlands sei sozusagen der ewige Friede ausgebrochen. Den, ihre sicher geglaubte Friedensdividende verzehrenden, Deutschen wurde geradezu plötzlich klar, dass Krieg in Europa tatsächlich doch wieder möglich geworden ist. Ja, mehr noch, man bekam (und bekommt es noch immer) buchstäblich zu spüren, was es bedeutet, sich bei einem lebensnotwendigen Versorgungszweig (in diesem Fall Erdgas) nahezu vollständig von einem unberechenbaren Despoten abhängig zu machen.
Seitdem hallt, schon fast wie eine Eidesformel, der Ruf «Nie wieder!» durch das Land. Nie wieder dermassen abhängig, nie wieder erpressbar werden! Wirklich? Was heisst denn: abhängig werden? In Wirklichkeit haben sich Deutschland, Europa, ja weite Teile des Globus doch längst Stück für Stück in die Abhängigkeit des fernöstlichen Riesenreichs China begeben. Was das für die weltweite Versorgung bedeutet, hat schliesslich erst jüngst der dort erfolgte Neuausbruch der Corona-Pandemie mit der damit einhergehenden Unterbrechung der internationalen Lieferketten drastisch vor Augen geführt: In den Apotheken wurden lebenswichtige Arzneien knapp, Auto-Werke und Waschmaschinen-Hersteller wurde wegen ausbleibender Bau- oder Ersatzteile zu Kurzarbeit gezwungen. Man mag es glauben oder nicht – der Ausfall von nur einem einzigen chinesischen Werk hat spürbare Verknappungen von «normalen» Antibiotika zur Folge. Denn 80 Prozent der Wirkstoffe kommen mittlerweile aus China.
Bis 2030 wirtschaftlich und militärisch Nr. 1
Na und? War denn nicht bisher immer auf die Chinesen als Handelspartner Verlass? Abgesehen davon, dass dieses Argument in der Vergangenheit auch im Zusammenhang mit Russland stets zuvorderst genannt wurde, ist in den westlichen Ländern – wenigstens über lange Zeit – auch beim Blick auf China gern ausgeblendet worden, wie unbeirrt das Regime in Peking seinen Anteil an der Weltwirtschaft mit dem Endziel verknüpft, Weltmacht zu werden. Mindestens auf gleicher Augenhöhe mit den USA. Denn das ursprüngliche Mutterland des Kommunismus – die einstige Sowjetunion bzw. das heutige Russland – haben die Chinesen technologisch und auf dem Weltmarkt längst hinter sich gelassen. Anders als China hat Moskau – von wenigen Rohstoffen wie Öl und Gas abgesehen – schliesslich höchstens noch Waffen zu bieten.
Dabei ist es ja keineswegs so, dass die chinesischen Machthaber das Ziel Weltherrschaft (oder zumindest Teilhabe daran) als Geheime Kommandosache behandelten. Im Gegenteil. Bereits im April 2020 gab Staatspräsident Xi Jinping offiziell und öffentlich die Parole aus, bis 2030 wirtschaftlich, militärisch und damit natürlich auch politisch die Spitze in der Welt eingenommen zu haben. Auf dem Weg dorthin, so Jinping weiter, gelte es «strategisch Abhängigkeiten» zu schaffen, um die dann – bei Bedarf – «politisch zu nutzen». Man kann diese Formulierung getrost auch in die Worte umformulieren, «erpressen zu können». Wie gesagt – wenn es denn einmal opportun erscheinen sollte.
Zukäufe und Kreditvergaben
Denn, anders als Putin bei seinem Weltmacht-Streben, ist Xi Jinping (noch) auf gutem Wege, dieselben Ziele ohne den Einsatz von Bomben und Granaten zu erreichen. Einfach so. Durch Zukauf von Hochtechnologie wie den auf dem Weltmarkt führenden Augsburger Roboter-Hersteller Kuka, durch grosszügige Kreditvergabe an notleidende afrikanische Länder gegen Monopol-Schürfrechte bei wichtigen Rohstoffen oder an europäische Staaten wie Ungarn (Mehrheitsbeteiligung an der staatlichen Bahn) bzw. Griechenland (gegen praktische Übereignung des Hafens von Piräus). Der ebenso längst realisierte Mitbesitz weiterer Häfen in Italien, Spanien, Portugal, Belgien und seit neuestem auch Deutschland sei nur am Rande erwähnt. Der von Peking in den internationalen Sprachgebrauch eingeführte Begriff «Neue Seidenstrasse» ist ja keine nostalgische Erinnerung an die Reisen Marco Polos, sondern ein knallhartes globales geopolitisches Vorhaben.
Und dann wäre da noch das leidige Thema Klimawandel. Genauer: Chinas Anteil daran und auch der weltweite Kampf dagegen. Denn – einerseits – zählt das «Reich der Mitte» mit seinem gewaltigen Kohleverbrauch zu den grössten Dreckschleudern auf dem Erdball. Andererseits besitzt es mit seinen «Seltenen Erden» die entscheidenden Grundstoffe u. a. für die «grünen» Strom erzeugenden Windräder. Mit anderen Worten: Ohne China keine Energiewende in Deutschland. Und zwar schon gar nicht, weil u. a. aufgrund der dortigen Dumpingpreise die einstmals auf dem Gebiet der Sonnenenergie führende deutsche Industrie über die Jahre total nach Fernost abgewandert ist und die Bundesrepublik deshalb zu 100 Prozent von Importen abhängig gemacht hat.
Fest an der fernöstlichen Kandare
Geiz ist geil – freilich nicht bloss bei Sonnenkollektoren. Wie sehr wir bei der Belieferung mit Arzneien an der fernöstlichen Kandare hängen, wurde schon erwähnt. Dasselbe allerdings gilt auf dem medizinischen Sektor aber auch etwa bei Spritzen, Beatmungstuben oder Herzkathetern. Das ist zwar keine Hightech, im Zweifelsfall aber lebensentscheidend. Kurz und gut – es beisst keine Maus einen Faden von der ebenso ernüchternden wie beängstigenden Erkenntnis ab, dass wir – unser Land wie das übrige Europa – nicht nur eng mit der chinesischen Wirtschaft verknüpft sind, sondern praktisch total an den Fäden der Pekinger Führung hängen. Der grüne Europaparlaments-Abgeordnete Reinhard Bütikofer hatte diese Situation unlängst einmal in ihrer möglichen politischen Konsequenz auf die Frage zugespitzt, was denn wohl passieren würde, wenn China über Taiwan herfiele. Immerhin hatte Staatspräsident Xi beim jüngsten Parteitag für die «Heimholung» des freien Inselstaates Gewaltanwendung ausdrücklich nicht ausgeschlossen. Würde die Bundesregierung, würden EU, die Nato, die USA, der grösste Teil der übrigen Welt ebenso geeint und resolut reagieren wie im Falle Putin und Russland? Zum Beispiel mit Sanktionen? Mit welchen denn?
Der nachdenkliche Abgeordnete Bütikofer hat wegen seiner offenen Worte Einreiseverbot von den Chinesen erhalten. Das wird er vermutlich verschmerzen können. Seine Fragen bleiben aber unverändert aktuell. Was würde geschehen, wenn? Wie würde unsere Reaktion ausfallen, wenn es Peking in den Sinn käme, Taiwan zu attackieren? Die USA haben bereits eine Beistandsgarantie für die Insel abgegeben. Ausserdem ist Washington erkennbar dabei, sein China-Engagement zu verringern. Ganz im Gegensatz etwa zur deutschen Industrie. 2021, zum Beispiel, entfielen 40 Prozent der gesamten europäischen Investitionen in China allein auf die grossen deutschen Auto-Hersteller. VW erzielt die Hälfte seiner Gewinne in China. Und obwohl der Bundesverband der deutschen Industrie deutliche Warnungen ausgesprochen hat, wollen der Ludwigshafener Chemie-Riese BASF und VW weiter expandieren – genauso übrigens wie der Discounter ALDI. BASF errichtet in China zurzeit einen gigantischen «Verbundstandort», in den der Konzern bis 2030 rund 10 Milliarden Euro investieren will.
Ganz auf Dominanz ausgerichtet
Nie wieder Abhängigkeit? Die Kunde ist wohl zu vernehmen. Aber ist es wirklich nur Pessimismus oder gar Ängstlichkeit, wenn angesichts der Realitäten in der Welt der Glaube fehlt? Im Berliner Bundeswirtschaftsministerium wird, so heisst es, gegenwärtig eine Dokumentation erstellt, in der angeblich nachdrücklich davor gewarnt werde, sich noch weiter in die Abhängigkeit von China zu begeben. Pekings ganze Politik sei auf «Dominanz» ausgerichtet, und Deutschland könnte (!) erpressbar werden. Eine kluge Erkenntnis? Eine nüchterne wirtschaftlich-politisch-diplomatische Analyse? Das kann man so sehen. Allerdings brauchte man auch nur auf das zu hören, was Pekings Führung ganz offen sagt.
Das hätte freilich auch für Putin gegolten. Man hätte – Politik, Medien, «Experten» und Bürger – einfach nur hinhören müssen.