Wer erinnert sich an die Rollen eines Schauspielers, der neunzig wird wie Jean-Louis Trintignant am 11. Dezember? Gerade noch die Gleichaltrigen? Im Kopf blieb vielleicht Georges in «Amour» von Michael Haneke, ausgezeichnet 2013 mit dem «Oscar». Aber Joseph Kern in «Drei Farben: Rot», 1994 von Krzysztof Kieślowski realisiert und mit dem französischen Kritikerpreis geehrt? Oder der Ermittlungsrichter in «Z» von Constantin Costa-Gavras, für den Trintignant 1969 in Cannes den Spezialpreis als bester Darsteller holte?
Grandiose Liebesszene
Dem filmhistorischen Kurzzeitgedächtnis könnte ein Film auf die Sprünge helfen, in dem Trintignant 2019 mit 89 und Anouk Aimée mit 87 die Hauptrollen mit je biografischem Bezug spielen: «Les plus belles années d’une vie» von Claude Lelouch.
Ein knapp zwanzigminütiger Dialog zwischen den beiden Stars gehört zu den in ihrer Glaubwürdigkeit und Feinfühligkeit berührendsten Liebesszenen überhaupt. Der Film als Ganzes mag mittelmässig sein, doch der Wortwechsel mit den Momenten des Umschmeichelns, der innigen Zuneigung und der Wehmut. dass die Begegnung im Spätherbst und nicht im Frühjahr des Lebens stattfindet, ist grandios.
Was traurig stimmen könnte, löst das dem Film vorangestellte Zitat von Victor Hugo in heitere Gefasstheit auf und bringt die Last der Vergänglichkeit zum Schweben: «Die schönsten Jahre des Lebens sind die, die man noch nicht gelebt hat.»
Bestätigung des Könnens
Trintignant als Jean-Louis Duroc sagt zwei dümmliche Sätze, vermutlich die dümmlichsten in einem Film überhaupt, die in einer Herrentoilette unter Alkoholisierten lustig wären, jedoch in einer Liebesszene idiotisch und peinlich sind: «Ich mache sehr gern Pipi. Wenn ich reich wäre, würde ich ständig Pipi machen.»
Es braucht einen Trintignant in der Rolle des ehemaligen Autorennfahrers Duroc, um der schwachsinnigen Beichte einen tieferen Sinn zu verleihen, nämlich als Geständnis des allmählichen Verdämmerns. Duroc ironisiert das Abnehmen der geistigen Kräfte, übertreibt den Verlust und will damit Anouk Aimée als Anne Gauthier, die geliebte Frau seines Lebens, provozieren und zugleich für sich wieder gewinnen.
Auf dem Grat zwischen unfreiwilliger Komik und pathetischem Überschwang nicht abzustürzen, mit der Absturzgefahr raffiniert zu pokern, den Charme verführerisch blitzen zu lassen, bestätigt sich Trintignant als einer der Grossen der Schauspielkunst.
Schauspieler und Rennfahrer
Trintignant wuchs in einer begüterten provenzalischen Familie auf, besuchte das Gymnasium in Avignon, wollte Rechtswissenschaft studieren, liess sich aber an der Filmhochschule IDHEC in Paris ausbilden. Übers Theater fand er als Schauspieler erfolgreich und als Drehbuchautor und Regisseur weniger glückhaft zum Film. Daneben fuhr er Auto- und Rallycross-Rennen.
Berühmte Schauspielerinnen an seiner Seite waren seine erste Frau Stéphane Audran, Brigitte Bardot, Anouk Aimée, Romy Schneider und Jane Birkin.
Unnachahmliches Lächeln und Lachen
Trintignant bewahrte sein unnachahmliches Lächeln und Lachen von der ersten bis zur letzten Rolle über alle Altersstufen hinweg. Es ist sein Markenzeichen als Verführer, Verliebter, Draufgänger oder Ganove, ob in einem Restaurant, einem Schlafzimmer, im Rennwagen oder Rollstuhl.
Wen immer Trintignant nach kritischer Lektüre des Drehbuchs verkörpert, gestaltet er aus der Ruhe heraus, sich selber treu, elegant, äusserlich gelassen, innerlich diszipliniert.
Zwischen dem Menschen und Schauspieler ist kein Unterschied auszumachen. Er redet klug, überlegt, ehrlich, mit einer gewissen Scheu als Ausdruck seiner Bescheidenheit. Egal, ob er ein Interview gibt, sich an einer Diskussionsrunde beteiligt, Gedichte seiner bevorzugten Autoren Boris Vian, Robert Desnos und Jaques Prévert rezitiert oder auf der Leinwand.
Er ist mit seinen neunzig Jahren gebrechlich geworden, zerbrechlich. Nach wie vor sind sein Lächeln und Lachen eine eigene poetische, lyrische, an Nuancen reiche und deshalb faszinierend starke Sprache.