Das Zitat ist von Robert Musil, es stammt aus einem im Jahre 1922 veröffentlichten Text über das „hilflose Europa“. Aber trifft es tatsächlich zu, dass man weltpolitische Ereignisse, die man gerne mit dem inflationären Adjektiv „historisch“ etikettiert, aus der zeitlichen Nähe nicht richtig beurteilen und einordnen kann?
Prüfen wir Musils Diktum zunächst an ein paar aktuellen Beispielen. Beginnen wir mit dem Deal, den die fünf Uno-Veto-Mächte plus Deutschland in dieser Woche mit Iran über die Beilegung des Streits um das iranische Atomprogramm abgeschlossen haben. Kann man diese nach jahrelangen Verhandlungen erzielte Vereinbarung „historisch“ nennen? Ist „die Welt sicherer geworden“, wie am Mittwoch eine Schweizer Tageszeitung ohne jede Einschränkung titelt? Für solche vollmundige Urteile ist es entschieden zu früh.
Das Abkommen muss noch von den zuständigen Parlamenten ratifiziert werden. Vor allem im US-Kongress ist das eine hohe Hürde. Der israelische Regierungschef Netanyahu hat einen Kompromiss mit Iran schon Monate bevor er überhaupt unterschrieben worden ist, als „Bad deal“ abqualifiziert. Er kann mit breiter Unterstützung der Republikaner im Kongress rechnen. Das polarisierende Thema wird natürlich auch bei der Präsidentschaftswahl 2016 hochgespielt werden. Und ob das Mullah-Regime sich wirklich von einer Atomwaffen-Herstellung abhalten lässt, kann niemand genau wissen. Weltgeschichtlich lässt sich vorläufig also keine halbwegs zuverlässige Einordnung vornehmen.
Das gilt auch für den in letzter Minute vermiedenen „Grexit“ aus dem Euro. Ist das nun ein „historischer Erfolg“ für die EU und Griechenland, wie manche Kommentatoren sagen, oder eine Katastrophe, wie Kritiker meinen? Erst in zwei oder drei Jahren werden wir wirklich klüger sein. Ins Feld führen kann man immerhin, dass die von streitbaren Keynsianern propagierten Kassandra-Prognosen, „Merkels und Schäubles Spar-Diktate“ führten in die Katastrophe, in Italien, Portugal, Spanien, Irland, Litauen, Slowenien nicht bestätigt worden sind – im Gegenteil. Also besser abwarten, mit „historischen“ Urteilen.
Wie steht’s mit dem Ukraine-Russland-Konflikt? Ist durch Putins Expansionskurs ein neuer Kalter Krieg in Gang gesetzt worden? Wird sich die Ukraine nun – wie Polen oder das Baltikum – in Richtung Westen integrieren? Oder wird die Ukraine durch den Krieg im Osten des Landes auf unabsehbare Zeit hinaus destabilisiert? Wird die neue Kluft zwischen Russland und dem Westen sich vertiefen oder kommt es im Gegenteil zu einer neuen Annäherung? „Historische“ Bewertungen mit bedeutungsschweren Begriffen wie „Zeitenwende“ oder „Epochenbruch“ sollte man hier im Interesse der Glaubwürdigkeit in die Zukunft verschieben.
An diese Weisheit hat sich übrigens auch der grosse Weimarer Klassiker Goethe gehalten. Am 20. September 1792 erlebte er als Augenzeuge die Kanonade bei Valmy, mit der ein französisches Revolutionsheer die preussisch-österreichischen Truppen unerwartet zum Rückzug zwang. Aufgeschrieben und veröffentlicht hat er seinen Kommentar ber erst dreissig Jahre später unter dem Titel „Campagne in Frankreich“. In dem Bericht steht der berühmte Satz „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und Ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.“ Im Abstand von drei Jahrzehnten gab es keine Zweifel mehr, dass mit der Französischen Revolution tatsächlich ein geschichtlicher Umbruch begonnen hatte.
Es kann auch in Zeiten des rasenden Internets und der sofortigen Kommentierung nicht schaden, Goethes Beispiel im Hinterkopf zu speichern. Natürlich darf man das aktuelle Geschehen kommentieren – aber Achtung vor apodiktischen, im Brustton der der Unerschütterlichkeit verkündeten Urteilen!