Herfried Münkler analysiert die gegenwärtige Weltsituation im Rückgriff auf Analysen und auf Denkmodelle, die von der Antike bis in die Gegenwart reichen. Auf diese Weise markiert er die blinden Flecken im gegenwärtigen westlichen Politikverständnis. Er leitet dazu an, ganz anders geartete politische Handlungsmuster zu verstehen.
Die Prämisse von Herfried Münklers Überlegungen besteht darin, dass Konflikte und Kriege nicht die Ausnahme, sondern der geschichtliche Normalzustand sind. Das Bemühen der Politik zielt darauf, diese Konflikte zu kontrollieren und Kriege nach Möglichkeit zu vermeiden, zu begrenzen oder aber im umgekehrten Fall zu gewinnen. Dafür gibt es, wie Münkler im ersten Kapitel ausführt, «drei Modelle»: Das auf den Römer Vegetius zurückgehende Modell besteht in glaubwürdiger Abschreckung: «Wer den Frieden will, bereite den Krieg (vor).» Das «Dante-Modell» sieht den Staat in erster Linie als Ordnungsmacht, als «Hüter» der Ordnung mit einer starken Führung und entsprechenden Ressourcen. Das «Comte-Spencer-Modell» verbindet Abschreckung mit wirtschaftlicher Kooperation, um Vertrauen herzustellen und Anreize für Gewaltanwendung zu nehmen.
Wer ist der «Hüter»?
Was zunächst etwas akademisch-trocken wirkt, erweist sich nun als höchst wirksames Mittel der Analyse. Denn Münkler fragt, welches Modell zum Beispiel der deutschen Russlandpolitik zugrunde lag. Da finden sich verschiedene Elemente. Auf der einen Seite die Abschreckung, dann aber auch die Kombination von Abschreckung und Kooperation. In diesem Zusammenhang kommt Münkler zum Schluss, dass die deutsche Abhängigkeit von russischen Gaslieferungen sicherheitspolitisch dem Compte-Spencer Modell entspricht. Also Aufbau von Vertrauen durch wirtschaftliche Bindungen und Abhängigkeiten. Allerdings wurde in Russland sehr genau registriert, dass Deutschland im Zeichen des ökologischen Umbaus nach und nach weniger russisches Gas verbrauchen wollte. Ein sicherheitspolitisches Risiko in russischen Augen.
Der gerade in Deutschland populäre pazifistisch motivierte Gedanke wiederum, Frieden mit immer weniger Waffen schaffen zu wollen, hängt mit der Erwartung zusammen, dass sich die Staaten an Verträge, Regeln und Absprachen halten. Aber Münkler weist darauf hin, dass es dafür eines «Hüters» bedarf, also einer Macht, die die Einhaltung der Regeln notfalls mit Gewalt erzwingt. Die Vereinten Nationen verfügen über keine ausreichenden eigenständigen Machtmittel, wohl aber Amerika, das sich zum Teil auch als Hüter verstand, aber aus anderen Perspektiven mit guten Gründen keinerlei Glaubwürdigkeit hat. Zu oft hat es Regeln des Völkerrechts gebrochen. Und inzwischen wird für mehr und mehr Amerikaner die Rolle des «Hüters» schlicht und einfach zu kostspielig.
Angst vor Prosperität an der Grenze
Und die Selbsteinschätzung des Westens als eine Art ethischer Avantgarde, der sich die ganze Welt über kurz oder lang anschliessen wird, hat sich bekanntlich als grosse Selbsttäuschung erwiesen. Münkler führt eine Reihe von Gründen dafür an, dass dieses «Narrativ» an Überzeugungskraft eingebüsst hat. Einer besteht darin, dass aus anderen Perspektiven das, was der Westen als Zeichen der Freiheit und Liberalität begreift, schlicht und einfach Dekadenz ist. Ausführlich beschäftigt er sich mit dem russischen Narrativ, das unter anderem seine Mission darin sieht, den Westen mit der russisch-orthodoxen Kultur von seinem Irrweg abzubringen.
Im russischen Narrativ – Münkler versteht unter «Narrativen» die Muster, die den Selbstdeutungen und Selbstauskünften zugrunde liegen – spielt nicht nur die Religion eine Rolle, sondern auch die politische Tradition des einst mächtigen Zarenreichs. Dieses Reich wurde mit eiserner Hand zusammengehalten, und die nachfolgenden Bolschewiki und die Kommunisten waren bekanntlich auch nicht zimperlich. Westliches Menschenrechtsverständnis passt nicht dazu.
Diese Überlegungen führen Münkler zu einer klaren Deutung des russischen Überfalls auf die Ukraine. Sicherheitspolitische Interessen beziehungsweise Befürchtungen im Hinblick auf die sogenannte Osterweiterung der Nato mögen eine Rolle gespielt haben, aber ausschlaggebend war etwas anderes: Putin konnte es unter gar keinen Umständen dulden, dass die Ukraine eine Demokratie nach westlichem Vorbild mit dem entsprechenden wirtschaftlichen Wohlstand wird. Als Geheimdienstler in Dresden hatte er beobachten können, wie verheerend sich der Lebensstil der Bundesrepublik auf die Bewohner der ehemaligen DDR ausgewirkt hat. Der Westen wurde zu ihrem gelobten Land.
Die Mythen von Hiob und Johannes
Putin sieht sich in der Tradition des russischen Narrativs, und er will sein Land zusammenhalten. Sein Überfall auf die Ukraine ist aus westlicher Sicht verwerflich, aber man versteht seine Logik nicht, wenn man ihn schlicht als politischen Irren hinstellt. Die westlichen Denkmuster verstellen den Blick auf die eigentlichen Triebfedern Putins vor dem Hintergrund der russisch-sowjetischen Tradition.
Ausführlich beschäftigt sich Münkler auch mit den chinesischen Narrativen. Diese gehen über das jetzige Modell des Staatskapitalismus hinaus und zielen auf eine Ordnung, in denen religiöse und gesellschaftliche Traditionen neu miteinander verbunden werden. Das ist auch deswegen spannend, weil es in China offensichtlich möglich ist, über das aktuelle Parteiprogramm hinauszudenken.
Der anspruchsvollste, aber auch ertragreichste Teil des Buches geht noch einmal weit in die Vergangenheit zurück. Münkler beschäftigt sich mit Mythen aus dem Buch Hiob im Alten Testament und der Johannes-Apokalypse im Neuen Testament. Bei Hiob gibt es zwei urzeitliche Wesen, die miteinander kämpfen: Leviathan und Behemoth. Und in der Johannes-Apokalypse ringen der Chaosdrache und der Erzengel Michael miteinander.
Carl Schmitt, Russland und China
Diese Mythen haben in der politischen Ideengeschichte eine herausragende Rolle gespielt. Am bekanntesten ist bis heute der «Leviathan» von Thomas Hobbes. Es geht dabei um die elementaren Kräfte, die den Staat und seine Ordnung gefährden und die der Staat bändigen muss. Auch andere vorstaatliche Kräfte dürfen nicht übersehen werden, wie Münkler an der Bedeutung der Geografie zeigt, die zum Beispiel zur Folge hat, dass See- oder Landmächte mit jeweils spezifischen politischen Eigenheiten entstehen. Die politischen Stile und Optionen zwischen See- und Landmächten unterscheiden sich grundlegend.
Nun mag es eine Kuriosität der politischen Ideengeschichte sein, dass ein in Deutschland höchst umstrittener Denker – um es vorsichtig zu sagen – im Zusammenhang mit den mythischen Gestalten des Hiob-Buches eine herausragende Rolle spielt: Carl Schmitt. Er hat sich mit diesen Mythen eingehend auseinandergesetzt und daraus Staatstheorien entwickelt, die autoritär zu nennen noch eine Untertreibung ist. Denn es geht um Kräfte, die der reinste Hohn auf rationale oder gar demokratische Verfahren zur Willensbildung sind. Aber es gehört zu Münklers Qualitäten, dass er sich unvoreingenommen mit den Interpretationen Schmitts auseinandersetzt. Dafür hat er allerdings sehr gute Gründe: Russische und chinesische Theoretiker schlagen schon seit Jahren aus Schmitts Thesen Funken.
Die Pointe von Münklers Beschäftigung mit den Mythen und mit Schmitts Deutungen liegt darin, dass unser liberales Staatsverständnis, so selbstverständlich es uns auch erscheint, in den Augen Carl Schmitts an den elementaren vordemokratischen Kräften, die das Phänomen «Staat» hervorbringen und subkutan ständig auf ihn einwirken, vorbeizielt. Zugespitzt könnte man sagen, dass wir ein zu idealistisches Verständnis vom Staat haben, weil wir ihn immer als Produkt einer mehr oder weniger demokratischen Willensbildung betrachten. Für Schmitt ist diese Willensbildung als Basis des Staates eine Illusion, die den Staat in seiner urtümlichen Kraft verkennt und daher ins Verderben führen muss. Für die russischen und chinesischen Theoretiker ist diese Ablehnung Schmitts eine schöne Bestätigung ihrer Verachtung des Westens und der eigenen Bestrebungen, ihren Staaten eine ideologische Wucht zu verleihen, die der Macht der biblischen Urtiere gleichkommt.
Die grosse Fehleinschätzung
Münkler erklärt nicht nur die politischen Entwicklungen der vergangenen zwei Jahrzehnte, sondern er markiert auch die blinden Flecken im westlichen politischen Denken. So hätte man, wie er zu Beginn seines Buches ausführt, schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre erkennen können, dass mit dem Zerfall der Sowjetunion eine brandgefährliche Konstellation entstanden ist. Denn die Sowjetunion war eine «saturierte Macht», der es in erster Linie darum ging, ihr Staatengebilde zusammenzuhalten. Nach dem Zerfall aber wurde Russland zu einer «revisionistischen» Macht, die verlorenes Terrain zurückgewinnen wollte. Diesen fundamentalen Wandel hat der Westen nicht begriffen.
Das letzte Kapitel beschäftigt sich mit der Frage, mit wie vielen Weltmächten in der Zukunft zu rechnen ist. Münkler spielt verschiedene Möglichkeiten durch. Dabei stellt sich die Frage, welche Rolle Europa in diesem Konzert einnehmen wird. Und auch da hat Münkler noch eine Pointe bereit: Die EU sei als eine «Kompromissmaschine» verfasst, sei also auf einstimmige Beschlüsse aller Mitglieder angewiesen. Schlagkraft sieht anders aus. Aber für Europa ist ein solches Dilemma nicht neu. Italien war im 16. Jahrhundert ähnlich strukturiert, und keiner hat das besser analysiert als Niccolò Machiavelli. Auf ihn geht Münkler ausführlich ein und empfiehlt, von ihm zu lernen.
Herfried Münkler führt vor, was Politikwissenschaft leisten kann. Wer die Gegenwart verstehen will, kommt um sein vielschichtiges Buch nicht herum. Der Titel, «Welt in Aufruhr», ist zwar aus Marketingsicht gut gewählt, aber Münklers Analysen beschreiben tektonische Verschiebungen, die weit mehr als ein Aufruhr sind.
Herfried Münkler: Welt in Aufruhr. Die Ordnung der Mächte im 21. Jahrhundert. Rowohlt Berlin 2023, 528 Seiten, 30 Euro