1968, ein schicksalhaftes Jahr. Die USA sind unheilvoll im Vietnamkrieg verstrickt. Der farbige Friedensaktivist Martin Luther King sowie der prominente demokratische Politiker Robert F. Kennedy werden ermordet, der Hardliner-Republikaner Richard M. Nixon wird neuer Präsident der Vereinigten Staaten. Russische Panzer stoppen in Osteuropa die Reformbemühungen des „Prager Frühlings“. Die linke Studenten-Bohème entfacht in Paris schwere Unruhen; als Folge davon wird im Mai das Filmfestival von Cannes abgebrochen. Der deutsche Studentenführer Rudi Dutschke erleidet in Berlin bei einem Anschlag lebensgefährliche Verletzungen. In Zürich kommt es zum sogenannten „Globus“-Krawall. In New York hat das Hippie-Musical „Hair“ am Broadway Premiere. Von Florida aus startet eine US-Saturn-Rakete zum letzten Test für den ersten bemannten Raumflug auf den Mond. Wenige Tage davor präsentiert der geniale US-Regisseur Stanley Kubrick in Washington D. C. sein epochales Spielfilm-Opus „2001: A Space Odyssey“. Darin fliegt ein Astronaut zum Mond. Übers Jahr dann, am 21. Juli 1969, betreten die Apollo-11-Besatzungsmitglieder Neil Armstrong und Edwin Aldrin real die Oberfläche des Erdtrabanten.
Science-Fiction wird salonfähig
Stanley Kubrick (1928–1999) hatte 1964 brillant, scharfsinnig und pechschwarzhumorig in seinem Film „Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb“ den Kalten Krieg, den Irrsinn des nuklearen Wettrüstens zwischen den Supermächten USA und UdSSR abgehandelt. Und 1968 machte er mit „2001: A Space Odyssey“ das zum Trash-Spektakel verkommene Genre des Science-Fiction-Films salonfähig: Kubrick ging es nicht um smarte Jungs in Uniform, die depperte Ausserirdische in ihren fliegenden Untertassen eliminierten, welche im Sinn hatten, die freie Welt zu zerstören. Und die im paranoiden Klima seit den 1950er-Jahren oft als Platzhalter für die überall vermuteten Kommunisten herhalten mussten.
Kubrick nahm in seinem aufsehenerregenden Epos den bisweilen euphorische Züge annehmenden Wettlauf ins Weltall zum Anlass, in politisch, kulturell und sozial bewegten Zeiten Grundsätzliches über das Wesen des Menschen, seine Herkunft, seine Ziele herauszufiltern. Mit den Mitteln der Filmkunst, aber abseits der Normen des lahmenden Hollywood-Kommerzfilms. Dennoch war „2001“ teures, grosses Kino. Es wurde für seine nie gesehene artistische, innovative Opulenz und Brillanz gelobt. Doch sogar weltoffenen, hellhörigen Beobachtern – vor allem in den USA – erschien „2001“ als zu fragmentarisch, zu entrückt, zu langatmig. Und zu religiös.
Kontrapunktierender Zeitanalytiker
Das mag daran gelegen haben, dass viele von Stanley Kubrick eine radikalere, unmittelbarere Kritik an den sich abzeichnenden dramatischen gesellschaftlichen Veränderungen erwarteten. Doch wie in seiner ganzen Karriere liebte es der freigeistige Zeitanalytiker, seine Reflexionen filmisch kontrapunktiert zu verpacken. Und so konnte für ihn das reflexartige Nachbeten des gängigen Protest-Dreiklangs „Sex, Drugs and Rock’n’Roll“ keine Option sein.
Auch nicht was die musikalische Ausgestaltung seiner symbolstarken Weltraum-Saga „2001“ angeht. Wo andere die Weltraum-Konquistadoren mit sattem, provokantem Rock etwa von The Who, The Doors oder Bob Dylan umhüllt hätten, setzte Kubrick auf stimmungsvoll Klassisches von Richard Strauss, inszenierte ein Raumschiffballett zum Walzer „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauss, integrierte Klangvolles von Aram Khachaturian oder György Ligeti in seinen Film.
Im Kanon der Filmgeschichte
„2001: A Space Odyssey“ ist ein Gesamtkunstwerk und zählt seit einem halben Jahrhundert zum Kanon der Filmgeschichte. Klar, dass in privaten Film-Sammlungen sogar da und dort noch eine VHS-Kassette vor sich hingammelt, bestimmt aber eine DVD im Gestell liegt. Doch Hand aufs Herz: Wer hat Kubricks Filmjuwel je oder wieder einmal dort gesehen, wo es hingehört: im Kino? Und erst noch im 70-Millimeter-Breitbildformat, wie es der erklärte Kontrollfreak Stanley Kubrick abgesegnet und verlangt hatte?
Fein, dass es dank zeitgenössischen Filmschaffenden wie etwa dem Regisseur und glühenden Kubrick-Verehrer Christopher Nolan („Dunkirk“, „Memento“) jetzt eine originalgetreu Reedition von „2001“ gibt. Sie wurde am Filmfestival von Cannes 2018 gezeigt und ist jetzt in ausgewählten Kino-Sälen zu sehen. Ein guter Grund für ein paar Anmerkungen zum Wiedersehen mit einem Solitär der Geschichte der Siebten Kunst.
Literatur wird zur Filmsymphonie
Seit Mitte der 1960er-Jahre befassten sich Stanley Kubrick und der Science-Fiction-Literat Arthur C. Clarke (1917–2008) mit einem Filmprojekt, das auf mehreren Kurzgeschichten Clarkes beruht und ähnlich strukturiert ist wie eine Sinfonie. „2001“ hat keine wirklich nahtlos durchgehende Handlung ud mit rund zweieinhalb Stunden Spielzeit Überlänge.
Schon die Introduktion ist ganz ungewöhnlich: Drei Minuten lang bleibt die Leinwand dunkel, zu Musik von György Ligeti aus seiner Komposition „Atmosphères“ (in TV-Ausstrahlungen wird dieses dramaturgisch wichtige Element zumeist weggeschnitten!). Das erste Bild, das man als Zuschauer wahrnimmt, ist das Logo der Produktionsfirma Metro-Goldwyn-Mayer (MGM). Dann füllt sich die Leinwand mit Impressionen von Erde, Mond und Sonne. Sie geht alsbald in den – oft zitierten – wuchtigen Klängen aus Richard Strauss‘ „Also sprach Zarathustra“ auf. Und sofort ist man gebannt von der Energie eines grandiosen visuell-akustischen Erlebnisses.
Blick zurück …
Der erste Akt, „The Dawn of Man“, spielt vor ein paar Millionen Jahren. Im Fokus ist eine Gruppe von Primaten, ruhelos auf der Suche nach Essen und Wasser, bedroht von Raubkatzen und aggressiven Artgenossen. Eines Morgens steht ein grosser schwarzer Monolith vor den höhlenartigen Behausungen. Von ihm geht eine energetische Kraft aus, etwas Überirdisches, Unbekanntes. Eines der Affenwesen scheint davon inspiriert zu sein, beginnt mit einem Skelett-Knochen zu spielen und erkennt, wie man ihn als Schlagwerkzeug benutzen kann. Bald wird daraus eine Waffe für die Jagd, ein Kampfmittel gegen Feinde. Das ist die Initialzündung für die Entwicklungen weg vom archaischen, primitiven, sprachlosen Rudel hin zur organsierten Gemeinschaft. Zum Homo sapiens?
… in die Zukunft
„The Jupiter Mission“ spielt dann – vom Entstehungsjahr 1968 ausgehend – an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Die Raumforschung ist weit fortgeschritten, es gibt komfortable Transportmöglichkeiten zu Aussenstationen und Fixpunkten im Orbit. Wir begleiten einen eleganten Raumfahrt-Funktionär, der mit russischen Kollegen zusammen unterwegs zum Mond ist. In geheimer Mission, weil auf einer Station erneut ein Monolith aufgetaucht ist, der für Unruhe sorgt und nun untersucht werden soll. Dabei kommt es zu einem dramatischen Vorfall.
Nach einem Zeitsprung von 18 Monaten sind wir jetzt im titelgebenden Jahr 2001. Neuer Schauplatz ist die „Discovery One“, eine High-Tech-Raumfähre, mit der sogar der weit entfernte Jupiter erreicht werden kann. Der Protagonist heisst nun Kommandant David Bowman (famos gespielt vom legendären Keir Dullea), mit vier Begleitern soll auch er das Geheimnis der erwähnten Monolithen-Erscheinung lüften. Mit an Bord befindet sich auch der Computer HAL 9000 – das Nonplusultra in Sachen künstlicher Intelligenz. HAL gilt als perfekt und fehlerfrei. Er ist technischer Berater, Kontrollinstanz, Butler, Mädchen für alles. Und er sorgt mit seiner sonoren, freundlichen Stimme für ein stress-minderndes Ambiente.
Psychodelischer Showdown
Alles gut auf der „Discovery One“? Natürlich nicht. Den Astronauten schwant irgendwann, dass HAL Ansätze von Eigeninitiative entwickelt. Nun ist Vorsicht geboten und es beginnt ein mit Psychothriller-Elementen gespicktes, kammerspielartiges, beklemmendes Duell zwischen Mensch und Maschine. Das übrigens in der Reedition des Films durch eine Pause mit einem Cliffhanger genau dort unterbrochen wird, wo sie Stanley Kubrick 1968 eingeplant hatte.
Für den Showdown, „Jupiter and Beyond the Infinite”, nähert sich der mittlerweile ereignisbedingt gebrochene Held David Bowman dem Jupiter und hat den Monolithen realiter vor Augen. Und er gerät in einen psychedelisch-infernalen, famos choreografierten Bild- und Sound-Sog, der ihn wie von einem Schwungrad beschleunigt schliesslich in eine kontemplative Sphäre hineinsaugt. Wo er mit seinem Altern, mit Todesnähe und – ganz wunderbar – mit einem Schöpfungsakt konfrontiert wird.
Zeitlose Magie
Kubricks extravagantes Epos „2001“ hat das Medium Film vielfältig befruchtet, nachhaltig verändert. Warum? Was macht die zeitlose Magie aus, die übrigens allen Stanley-Kubrick-Filmen eigen ist? Es ist die fast physisch spürbare Kubrick’sche bedingungslose Hingabe an seine Arbeit, die Suche nach dem Sinn hinter der Oberfläche des Existenziellen, der kompromisslose Verzicht auf alles Simplifizierende und Effekthascherische.
„2001“ hat aus heutiger Perspektive nichts nostalgisch Verklärendes und nur wenig ist ein Déjà-vu, so etwa eine Bildtelefon oder ein Personen-Identifikationssystem durch Stimmerkennung. Ansonsten hat der Film eine frische, neugierig machende Struktur: Vergessen wir nicht, dass seit dem, was Kubrick fiktiv vorweggenommen hat, die Mondlandung, in der bemannten Raumfahrt nicht wirklich viel Neues geschehen ist. Die letzte Mondexpedition datiert von 1971. Und spätestens seit dem Kollaps des Ostblocks mit dem Ende des UdSSR-Imperiums ist der weitgehend ideologisch basierte, zudem sündhaft teure Prestige-Wettbewerb um die Vormachtstellung im Orbit obsolet geworden. Sogar die „International Space Station“ (ISS), sie wird seit 2000 permanent von Astronauten aus verschiedenen Nationen bewohnt und kreist in rund 400 Kilometern Höhe um die Erde, liefert zwar fachspezifisch hochwertige Ergebnisse, sorgt aber in der veröffentlichten Meinung kaum je für Schlagzeilen. Und auch um das vor einigen Jahren diskutierte Thema des Weltall-Tourismus ist es ruhiger geworden.
Renaissance des Sci-Fi-Genres
Das lange brachliegende Sci-Fi-Filmgenre allerdings erlebt dank der verblüffenden Exzellenz digitaler Gestaltungsmöglichkeiten eine Renaissance. Und hat die Sehnsucht des Publikums nach mehr Wissen über intelligente Lebensformen oder das Aussehen von Ausserirdischen verstärkt. Stanley Kubrick hat Letzteres seinerzeit im besonderen Masse umgetrieben, zumal der Fantasie vor 50 Jahren noch mehr Spielraum geboten wurde, als es der heutige Wissensstand erlaubt. Lange wurde an einer Figur herumgetüftelt, welche Herkunft, Sinn und Zweck der mysteriösen Monolithen-Kraftfelder erklären sollte. Doch dann brach Kubrick diese Übung ab. Es schien ihm überheblich, sich ein Bild eines Extraterrestrischen machen zu wollen, dem etwas Gottähnliches innewohnte. Andere bedeutende Filmkünstler, etwa Ridley Scott („Alien“) oder Steven Spielberg („E. T.“), hatten da weniger Berührungsängste!
Kubricks „Alien“ heisst HAL
Wer „2001“ in analoger Pracht, also im 70-Millimeter-Format und nun auch in modernster 4K-Auflösungsqualität sieht, wird aber erkennen, dass Stanley Kubrick dennoch einen „Ausserirdischen“ installiert hat – den Interessantesten überhaupt: Den erwähnten rätselhaften Computer HAL 9000, dem eine Schlüsselfunktion zukommt. 1968 hielt sich das Allgemeinwissen bezüglich Informatik und Robotertechnologie noch in engen Grenzen. Computer waren unförmige Kisten, wurden oft bestaunt wie ein Schaubudentrick auf dem Jahrmarkt. Allerdings beschlich einen schon damals die Ahnung, dass hinter HALs rotem Linsenauge mehr steckte als eine Taschenspielertrickserei. Angesichts des famos inszenierten Schlagabtauschs zwischen Astronaut Bowman und seinem im Sinne des Wortes erweckten Computer-Zauberlehrlings HAL hat man heute ein Aha-Erlebnis. Schliesslich tragen wir alle mindestens einen miniaturisierten HAL in der Hand- und Hosentasche herum, als selbstverständlichen, unentbehrlichen Gebrauchsgegenstand, dem wir unser Bedürfnis zu kommunizieren, den Trieb nach Informationsbeschaffung bedingungslos anvertrauen. Und allmählich gewahr werden, dass die Smartphone-Technologie galoppierend in Richtung künstliche Intelligenz fortschreitet und unserer Kontrolle entgleitet; was für ein Beweis für Kubricks visionären Blick in „2001“.
Ernsthafte Leichtigkeit
Von sorgfältigsten Recherchen ausgehend, wirkt bei Stanley Kubrick über Bildästhetik, Ausstattung, Tongestaltung, Schauspielerführung bis hin zur Exzellenz von Schnitt und Montage alles wie aus einem Guss. Das gilt für sein Gesamtwerk, das notabene zu jedem Genre quasi einen Leit-Film geliefert hat. Sie alle werden vom Odem einer verführerischen Leichtigkeit des Ernsthaften getragen, rühren jede Facette der Emotionalität an. So wie man das in Shakespeare-Dramen wiederfindet, wo auch neben dem Tragischen in Nischen das Komische Platz findet. So delektieren wir uns in „2001“ an einer Stewardess (ältere Semester erinnern sich an PanAm-Flugbegleiterinnen in dezentem Blau und Rot), die – in rutschfesten Schühchen wie schwebend der Schwerelosigkeit trotzend – ein Schreibgerät einfängt, das einem dösenden Passagier aus der Hand geglitten ist und durch den Kabinenraum gleitet. Im Steuerraum greifen die Piloten gerne zu Menü-Pasten in bunten Farben, die in flachen Schalen serviert werden oder als formloses Sandwich. „Ist das Huhn?“, fragt der Pilot seinen Kollegen. „Ja, so etwas Ähnliches, schmeckt ja eh alles gleich.“ Der andere: „Sieht aber gut aus.“
Amüsiert ist man auch, wenn ein Raumschiff-Fluggast vor dem Toilettenbesuch das umfangreiche Merkblatt mit expliziten Verhaltens-Anweisungen durchliest, damit auf dem stillen Örtchen ja nichts schiefgeht. Honi soit, qui mal y pense! Und von Ironie durchwirkt ist ein Bildtelefon-Gespräch mit dem Töchterchen auf Erden. Was es sich zum Geburtstag wünsche, will Papa wissen. „Ein Telefon“, zwitschert das Kind. „Aber es gibt doch schon überall Telefone“, repliziert Daddy und ist sichtlich erleichtert, dass das Kind doch lieber ein Buschbaby, ein Feuchtnasenäffchen hätte.
„2001“ als Stil-Ikone
Sprichwörtlich geworden ist die Ausstattung in „2001“, die auf der grossen Kinoleinwand bis ins Kleinste sichtbar wird. Die Raumschiff-Innenarchitektur (wesentlich hochwertiger als die karge, zweckdienliche „Möblierung“ in realen Raumfahrzeugen) hat beispielsweise Hotel-Lobby-Architekten beeinflusst. Und nicht nur die „Djinn chairs“ des französischen Industrie-Designers Olivier Mourgue sind Kultobjekte geworden. Und: Wenn ab und an Markennamen und Produkte von IBM, PanAm, Nikon oder „Parker Pens“ sehr prominent ins Bild kommen, wird kaum jemand dies bloss als raffiniertes Product-Placement-Manöver abtun: In einem Stanley-Kubrick-Film hat alles seinen Sinn.
Wir empfehlen ohne Einschränkung einen Kinobesuch. Und schliessen mit einem Zitat des öffentlichkeitsscheuen Stanley Kubrick, aus einem Interview im „Playboy“ von 1968: „It’s not a message that I ever intend to convey in words. 2001 is a nonverbal experience; out of two hours and nineteen minutes of film, there are only a little less than forty minutes of dialog. I tried to create a visual experience, one that bypasses verbalized pigeonholing and directly penetrates the subconscious with an emotional and philosophic content.“
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Vorstellungen Kino KOSMOS, Zürich:
Bis Mittwoch 4. Juli., täglich um 20.15 Uhr
Link mit zusätzlichen Infos und allfälligen Programmänderungen
Bis 23. September Frankfurt Deutsches Filmmuseum:
„Kubricks 2001. 50 Jahre A SPACE ODYSSEY“