Die Chorwand wird zur Badelandschaft. Die Pfarrerin predigt und tauft vor einer auf 8 Meter Breite vergrösserten Fotografie. Sie zeigt, ungewohnt in einer Kirche, eine Lagune mit dunkelgrünen Bäumen, durch deren Blätterdach die Sonnenstrahlen auf türkisfarbenem Wasser spielen: Ein Paradies! Zahlreiche Menschen in Badekleidern geniessen es. Zum Schwimmen ist die so wunderschön beschattete Wasserlandschaft, eine wahre Idylle, zu seicht. Also plantschen die Leute im Wasser, sitzen, schwatzen, picknicken, kühlen sich ab, denn der Sommer 2019, als das Bild entstanden ist, war heiss. Sie freuen sich stillvergnügt allein, paarweise, in Familien, im Freundeskreis. Und sie tun, was heute alle Welt tut: Sie zücken das Handy für Selfies oder für Erinnerungsbildchen an vergnügliche Stunden in paradiesischer Natur.
Illusion von Natürlichkeit
Ist das nicht ein bisschen zu viel des Paradiesischen? In der Lagune ist’s eng. Und immer zahlreicher strömen die Menschen dazu. Die eigene Freiheit stösst sich bald an der Freiheit der Nachbarin. Da braucht es wohl die Energy-Drink-Dose Marke „Green Apple“, die zur Installation gehört. Die künstliche Frische des Apfelgetränks schafft bloss eine Illusion von Natürlichkeit, denn da ist kaum etwas natürlich. Dass die Dose leichthin und frei über ihrem weissen Sockel schwebt, stützt diese Illusion zusätzlich – und bringt zugleich eine leise Ironie ins Spiel: Da herrscht die gleiche Unwirklichkeit wie im Bild der schönen Paradies-Badelandschaft, in die die Menschen fliehen, weil ihre eigene Wirklichkeit zu beengend ist.
Die Pfarrei der Johanneskirche an der Limmatstrasse im Zürcher Industriequartier lud die Künstler-Zwillinge Markus und Reto Huber (geboren 1975 in Münsterlingen, leben in Zürich) zu einer Intervention ein, die für ein halbes Jahr den Innenraum der 1898 vom Basler Architekten Paul Reber erbauten Kirche verändert. Reber ist vor allem mit historisierenden Sakralbauten in Basel und Zürich hervorgetreten. Den Innenraum der Johanneskirche mit seinen umlaufenden Emporen prägt die gewölbte dunkle Holzdecke, eine wunderbare Zimmermannsarbeit. Auf der nördlichen Empore steht der den Raum optisch beherrschende Orgelprospekt aus ebenfalls dunklem Holz. Die Kirche verdient innerhalb des reformierten Kirchenbaus des ausgehenden 19. Jahrhunderts Beachtung wegen ihrer Eigenständigkeit und einheitlich-sorgfältigen Gestaltung des Innenraumes. Dazu gehören auch die wuchtige Bauplastik und die Glasmalereien über den Emporen.
Profanes im Sakralraum
huber.huber – unter dieser Bezeichnung arbeiten die beiden Künstler seit 2005 gemeinsam international erfolgreich an ihren Projekten – greifen in dieses schöne Raumgefüge ein mit intensiven Farbakzenten und mit der detailreichen und durchaus auch von Humor geprägten erzählerischen Note ihrer Fotoarbeit. Wir nehmen das ganze Projekt als Fremdkörper wahr, der, meilenweit entfernt von jeder traditionellen christlichen Ikonographie, den Sakralraum auf eine völlig neue Dimension hin öffnet. huber.huber zielen wie aus weiter Ferne und doch ganz direkt ins Zentrum dessen, was Religion und Spiritualität heute ausmachen oder ausmachen können – und auch ins Zentrum menschlicher Sehnsüchte und Zukunftsvorstellungen.
Der Titel „Das verlorene Paradies“ spricht von Hoffnungen und Wünschen, aber auch, da das Paradies den Menschen abhandengekommen, eben „verloren“ ist, von Enttäuschung und Wehmut oder, um bei der Sprache der christlichen Religion zu bleiben, von der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen. Die Künstler tun das in einer durchaus profanen, also weltlichen Kunstsprache. Das gilt besonders auch von der giftig-grünen Energy-Drink-Dose, die als leuchtende Verheissung jedweder Machbarkeit des Glücks vor dem bunten Riesenfoto schwebt. Doch das Gleichgewicht ist labil. Ständig droht der Absturz.
Kontext und Interpretation
Wir begegnen der Installation „Energy oder Das verlorene Paradies“ nicht in einem Museum oder einer Galerie, sondern in einer Kirche. Kunstaffines Publikum mag sich da auch einfinden, bleibt aber wohl eine Minderheit. Dieser Kontext prägt die Interpretation. Aber: Obwohl huber.huber ihr Werk als Hintergrund zum Ort der Verkündigung, der Taufe und der christlichen Gemeinschaft gestalten, als Hintergrund der Kanzel, des Taufsteins und des Gabentisches, obwohl sie mit ihrer Intervention also ganz direkt ins kirchliche Geschehen und in die liturgische Handlung eingreifen, ist ihr Werk nicht Predigt. Die Künstler unterweisen nicht und sie präsentieren dem Publikum keine Antworten auf seine Fragen.
Aber sie rufen die Fragen ins Bewusstsein: Sind Ferien, Erholung, Freizeit, davon erzählten ja huber.huber in ihrer Fotoarbeit, wirklich das Paradies? Was sind darüber hinaus die Sehnsüchte und Hoffnungen der Menschen? Halten diese Sehnsüchte einer existenziellen Überprüfung stand? Welches Paradies kann gemeint sein, wenn wir – und auch die Exponenten der christlichen Kirchen – davon reden? Und was wäre zu tun und wie soll das Paradies beschaffen sein, damit es sich für viele öffnen lässt? Welcher „Energy-Drink“ kann dabei helfen – oder metaphorisch: Welche „Energy-Drinks“ kann die Kirche anbieten? Koffeinhaltige? Wie wird das Evangelium, das die Pfarrerin hier verkündet, zum „Koffein“ oder – um andere Wirkstoffe dieser Aufputsch-Getränke zu bemühen – zum Glucuronolacton und zum Taurin?
Brückenschlag
Paradies-Darstellungen sind in christlichen Kirchen häufig, und das schon seit frühchristlicher Zeit. Da steht das himmlische Jerusalem für die ewige Glückseligkeit. Christus herrscht als Pantokrator inmitten seines heiligen Hofstaates. Hunderte von Engeln bevölkern den Himmel. Manches Jüngste Gericht zeigt den Höllensturz der Verdammten auf der einen und den Einzug der Seligen ins Paradies auf der andern Seite. Bei geöffneten Flügeln spätmittelalterlicher Altäre zeigt der leuchtende Goldgrund Paradiesisches an, während die Grisaillen der Flügel-Aussenseiten diesseitige Leiden signalisieren.
huber.huber gehen andere Wege mit ihrer aus der Gegenwart schöpfenden Kunstsprache. Vielleicht bieten sie der Pfarrerin eine Steilvorlage für eine aktuelle Predigt. Sie sind damit heute nicht mehr allein. Manchenorts suchen engagierte Pfarrer und Kirchgemeinde-Vorstände den Brückenschlag zu einer Kunst, die ihre Anfragen an Spiritualität und Grundbedingungen menschlicher Existenz aus profanem Fundus heraus stellt – oft mit doppeltem Effekt: Kirchennahes Publikum erfährt die vertraute Botschaft auf vielleicht befremdende, aber gerade deswegen bereichernde Weise. Andererseits finden Kirchenfremde über diese Kunst Zugang zu ihnen bisher fremden Welten. Es gibt dafür viele Beispiele.
Ein kleines Beispiel: Mahtola Wittmer und Klarissa Flückiger ersetzten im Rahmen einer Kunstaktion vor zwei Jahren den Glockenklang der Peterskapelle in Luzern durch Handy-Geklingel, was teils auf extreme Abneigung stiess: Viele Leute wollten nicht lautstark mit dem konfrontiert werden, was sie den ganzen Tag bedenkenlos selber auslösen. „Zeitzeichen“ nannten die Künstlerinnen ihre Aktion.
Ein grosses Beispiel: In den späten 1980er Jahren begann der Jesuit Friedhelm Mennekes in Köln mit den Aktivitäten der Kunststation St. Peter. Er lud während Jahren so bedeutende Künstler zu Interventionen in die City-Kirche ein wie Markus Lüpertz, Joseph Beuys, Gloria Friedmann, Keith Haring, Cindy Sherman, Helmut Federle, Francis Bacon, James Lee Byars, Eduardo Chillida, Arnulf Rainer, Martin Creed oder Barbara Kruger und viele andere. Meist bezog er ihre Werke ins liturgische Geschehen ein.
Die Johanneskirche in Zürich will fortsetzen, was sie jetzt mit huber.huber begann, und auch künftig Künstlerinnen und Künstler in den Kirchenraum einladen.
Harmlos und Radikal
huber.huber. die sich ganz verschiedener künstlerischer Medien (Malerei, Zeichnung, Skulptur, Rauminstallation, Fotografie, Video, Konzept) bedienen, sagen in einem Statement über ihre eigene Arbeit: „Unsere Werke weisen mehrere Ebenen auf, die erste kann recht harmlos und ruhig sein, bei längerer Betrachtung kippt diese dann meist radikal – so dass das scheinbar Harmlose irritierend und zerstörerisch wirkt. Manche Werke sind klar politisch zu lesen, oder der Titel verdeutlicht ihre Intention, aber auf der ersten Ebene sind es unaufgeregte Kommentare zu unserer Gesellschaft. Wir suchen nicht den lauten, schnellen Effekt. Was uns selber in der Kunst als Qualität überzeugt, ist etwas nicht auf den ersten Blick Sichtbares, das einen berührt, etwas auslöst und zum Nachdenken anregt. Humor oder eher Ironie ist in unserer Arbeit wichtig – nie aber ist das Werk zynisch oder einfach nur laut oder martialisch.“
Johanneskirche, Limmatstrasse 122, Zürich. Bis 9. Juni