«Holbein und die Renaissance im Norden» titelt das Städel Museum in Frankfurt. Ein irritierender Titel, aber eine ambitionierte und spannende Ausstellung über Augsburg um 1500. Sie spiegelt die Umbrüche der Neuzeit und die Öffnung Europas nach Osten und Westen.
Holbein? Welcher denn? Es gibt deren mehrere. Man spiele natürlich mit der Mehrdeutigkeit, sagt Jochen Sander. Er ist Kurator der neuen Ausstellung «Renaissance im Norden» im Städel Museum und versierter Kunsthistoriker und Museumsmann.
Und: «Die Renaissance im Norden»? Welche «Renaissance» und welcher «Norden»? Der Ausstellungstitel sagt auch dazu nichts. Er ist nach gängigen Marketing-Usancen klug gesetzt: Er tippt an, verrät aber nicht zu viel. Ein berühmter Name muss es sein – eben Holbein, und viele meinen dabei natürlich den berühmten jüngeren Hans Holbein.
Dazu ein kunsthistorisches Stichwort, unter dem sich verstehen lässt, was man will – eben Renaissance. Und der Norden: Nördlich der Alpen liegen Bern, Zürich, Deutschland, auch Prag und England – eine breite Palette also. Das Städel Museum pflegt diese Verkaufsstrategie nicht nur im Titel der Ausstellung. Es setzt in Prospekten und im Aushang grosser Werbefahnen in Frankfurt auf den schönen Kopf der Darmstädter Madonna, die ihr Kind herzt. Sie ist eines der weltweit bekannten Meisterwerke von Hans Holbein dem Jüngeren (1497/98–1543) und beste Werbung fürs Unternehmen.
Augsburg im Zentrum
Das Bild befindet sich seit mehr als zehn Jahren im Besitz des Sammlers Reinhold Würth, der es für eine unbekannte, aber sicher immense Summe aus dem Familienbesitz der Grossherzöge von Hessen und bei Rhein erwarb. Es gehört zur der Sammlung Würth in Schwäbisch Hall. Man kann dem Bild jetzt in der Ausstellung im Städel begegnen, dazu auch weiteren Werken des wohl bedeutendsten Renaissance-Malers nördlich der Alpen, so der Solothurner Madonna (1522) und dem Doppelporträt des Bürgermeisters Jacob Meyer zum Hasen und seiner Ehefrau Dorothea Kannengiesser (1516).
Schwerpunkt der Ausstellung sind aber weder Hans Holbein d. J. noch «die Renaissance im Norden», was immer damit gemeint sein mag. Schwerpunkt sind Kunst und Kultur der Stadt Augsburg in der Zeitspanne von 1500 bis rund 1530, die geprägt war von grossen gesellschaftlichen, künstlerischen, religiösen und wirtschaftlichen Verwerfungen. Im Zentrum stehen vor allem Hans Holbein der Ältere (1460/65–1524) und Hans Burgkmair (1473–1531), aber auch andere Augsburger sowie die Kaufmannsfamilie der Fugger mit Jakob Fugger dem Reichen (1459–1525) an der Spitze.
Solch kunst- und kulturhistorische Fragestellungen sind motivierend für die Wissenschaft. Doch mit ihnen lässt sich kaum jenes grosse Publikum anziehen, das dem Unternehmen erst den nötigen Erfolg sichern kann. Da drängen sich Verkürzung und Konzentration auf Highlights in der Titelgebung auf, auch wenn falsche Erwartungen geweckt werden. Der umfassende und materialreiche Katalog titelt ehrlicher: «Renaissance im Norden – Holbein, Burgkmair und die Zeit der Fugger». Da wird klar, dass man kaum Zeitgenossen des älteren und des jüngeren Holbein wie zum Beispiel Matthias Grünewald, Hans Baldung Grien, Albrecht Altdorfer, dem älteren Cranach oder gar den Schweizern Niklaus Manuel Deutsch (Bern) oder Hans Asper (Zürich) begegnen wird und dass es, wegen der Fugger, um Augsburg geht.
Ob der Titel «Holbein und die Renaissance im Norden» zu viel verspricht? Der Vorwurf des Etikettenschwindels wäre zu hart angesichts der Fülle der Ausstellung, die nicht auf einen singulären Superstar setzt, sondern dem kulturellen Klima der Grossstadt Augsburg nachspüren will. Das ist ein aufwändiges Unterfangen, das nach komplexen Detailuntersuchungen ruft und die Spürnase der Kuratoren fordert.
Augsburg hatte um 1500 rund 30’000 Einwohner, das Doppelte der bayerischen Herzogsstadt München, das Dreifache des kulturellen Hotspots Basel. Die Stadt war reich, verfügte über eine hochstehende Infrastruktur auch im Bereich des Sozialen und befand sich im Zentrum wichtiger Handelsrouten. Es gab Kaufleute, Manufakturen und Handwerker, Weber und berühmte Goldschmiede, ferner Buchdrucker, Verleger und eine Intellektuellenschicht. Wirtschaftlich potente Auftraggeber konnten auf zahlreiche gut ausgebildete Künstler, Maler wie Bildhauer, zurückgreifen. All das hat den Paradigmenwechsel in der Kunst um 1500 beflügelt.
Der Ursprung der Musik
In Augsburg entstand das älteste noch bestehende Renaissance-Bauwerk nördlich der Alpen, die Fugger-Grabkapelle der St. Anna-Kirche. Natürlich liess sich die Kapelle, die nach schweren Kriegsschäden wieder hergerichtet werden konnte, nicht nach Frankfurt transferieren, doch zu sehen sind nicht nur Albrecht Dürers Skizzen zu den Fugger-Grabmälern und Ausstattungsfragmente wie Putten und Figuren des Chorgestühls, sondern auch die von Jörg Breu 1512–1522 bemalten Flügel der kleinen Orgel. Sie handeln – ein sehr seltener Bildinhalt in der Kunstgeschichte – von der sagenhaften Entstehung der Musik, einerseits im Umfeld des griechischen Mathematikers Pythagoras überliefert, andererseits in knapper Formulierung erwähnt im Buch Genesis des Alten Testamentes.
Auf den beidseitig in intensiv bunten Farben bemalten Flügeln spielt die perspektivisch geschilderte Architektur eine bedeutende Rolle als Raum für die plastisch aufgefassten Figuren mit deutlicher Gestik und teils drastischer Physiognomie. Das sind typische Merkmale der Augsburger Renaissancemalerei.
Aus heutiger Sicht eine Kuriosität ist ein um 1525 entstandenes kleines Lindenholz-Relief von Sebastian Loscher zum Thema «Macht und Reichtum huldigen Jakob Fugger». Der Hintergrund des geradezu klassischen Renaissancestrategien verpflichteten Werkes ist gemäss Ausstellungskatalog nicht ganz klar. Dass der Künstler frühkapitalistische Machtausübung – die Einflussnahme der Fugger auf Politik und Kaiserwahl zum Beispiel – Bild werden liess, ist anzunehmen.
Umbruch und Öffnung
Die Zeit kurz nach 1500 war eine Umbruchzeit. Vorreformatorische oder reformatorische Unruhen prägten das religiöse und kulturelle Leben. Die Künstler verloren wegen des Bildverbotes und wegen der Bilderstürme (in Basel 1529) ihre kirchlichen Aufträge und mussten nach andern Themen suchen. Manche Werke wurden zerstört oder beschädigt.
Ein Beispiel: Auf dem Fischmarkt in Augsburg stand eine Statue des heiligen Ulrich, Stadtpatron und Patron der Fischhändler. In den 1530er-Jahren wurde Ulrich vom Sockel gestürzt und entsorgt. An seine Stelle trat eine antikisch anmutende bronzene Neptun-Skulptur. Ein anderes: Die Solothurner Madonna Hans Holbeins d. J. wurde aus der Basler Martinskirche entfernt und erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Grenchen in ruinösem Zustand wieder entdeckt. Holbeins d. J. Weggang von Basel nach London (erstmals 1526–1528, dann definitiv 1532) steht auch im Zusammenhang mit der desolaten Auftragslage im reformierten Basel.
Die Zeit um 1500 war auch eine Zeit der Öffnung Europas und der Entdeckung neuer Seewege nach Osten und Westen. Das erschloss dem Handel neue Möglichkeiten und dem Denken eine neue Weltsicht. Das ging an Augsburg nicht spurlos vorbei, wie Illustrationen Hans Burgkmairs zu zeitgenössischen Reiseschilderungen belegen. Der Künstler, der selber brav zu Hause blieb, schilderte in seinen Zeichnungen detailfreudig und mit viel Phantasie indischen Alltag oder halbnackte Reiter auf Dromedaren und Elefanten.
Vor allem aber wartet die Schau mit ihren rund 180 Exponaten mit vielen Malereien biblischen Inhalts, mit Druckgrafik und mit Zeugnissen einer hochstehenden realistischen Porträtkunst auf. Diese Porträtkunst belegt ein hohes Macht- und Selbstbewusstsein der bürgerlichen Elite Augsburgs. (Ein Beispiel dafür ist das Porträt eines Mannes mit Rosenkranz von Ulrich Apt.)
Malerei steht auch im Dienst politischer oder religiöser Propaganda. Das zeigt der grosse Altar Holbeins d. Ä für die Augsburger Dominikanerkirche. In diesen Malereien und Druckgrafiken – und das ist ein wichtiges Ergebnis der Ausstellung – treten uns vor allem Hans Holbein d. Ä. und Hans Burgkmair, aber auch andere Künstler als eigenständige und kreative Persönlichkeiten entgegen. Dabei wirken Burgkmairs Malereien und seine Druckgrafik weltoffener, experimentierfreudiger und zukunftsorientierter als jene des konservativeren, aber umso fleissigeren Holbein d. Ä.
Im Schaffen beider Hauptvertreter und auch der übrigen Maler der Augsburger Kunst zu Beginn des 16. Jahrhunderts zeigen sich Einflüsse von aussen – von Italien, aber auch von der flämischen Malerei. Das wird deutlich in Konzepten der Porträt- oder der Altarmalerei und in der Rolle, welche die Architektur in der Malerei spielt. Das gilt mehr noch von Hans Holbein d. J. So stellt die Ausstellung der Solothurner Madonna die Lucca-Madonna Jan van Eycks (Städel-Sammlung) gegenüber. Einem Werk des Italieners und Leonardo-Schülers Andrea Solario, dem Holbein d. J. auf seiner Frankreichreise 1524 begegnet sein mochte, lässt sich ablesen, dass Holbein in manchen Details der Darmstädter Madonna Kenntnisse italienischer Kunst verarbeitete.
«Das schönste Bild der Welt»
In der Ausstellung hängt, «ausser Katalog» und allein an einer Wand, das wunderbare und frisch restaurierte kleine Rundbild Hans Holbeins d. J. mit dem Porträt von Simon George of Cornwall aus der Städel-Sammlung.
Der elegant gekleidete junge Mann mit der Nelke in der Hand scheint auf Brautschau. Das Porträt, kompositorisch und maltechnisch perfekt und mit dem für den späten Holbein typischen seidenen Glanz des Farbauftrags, entstand erst ca. 1535–1540, also ausserhalb des Zeitfokus der Ausstellung. Auf dieses «schönste Bild der Welt», so Städel-Direktor Philipp Demandt (mit selbstironischem Unterton des Verliebten?), wollte man nicht verzichten. Das Bildnis prangt denn auch, wie der Kopf der Darmstädter Madonna, als Grossplakat an der Fassade des Städel Museums – als Werbung für «Holbein und die Renaissance im Norden». Da ist keine Frage mehr, welcher Holbein denn gemeint sei.
Städel Museum Frankfurt: Holbein und die Renaissance im Norden
bis 18. Februar 2024
Die Ausstellung entstand in Zusammenarbeit mit dem Kunsthistorischen Museum Wien, wo sie vom 19. März bis zum 30. Juni 2024 gezeigt wird.
Katalog, 360 Seiten, 45 Euro