Wahrscheinlich kann Olaf Scholz sich einem definitiven Ja oder Nein zur Frage «Grünes Licht für die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine?» nur noch einige Tage lang entziehen. Der Druck für ein Ja wächst selbst innerhalb der Ampel-Koalition von Stunde zu Stunde.
Der Grünen-Politiker Anton Hofreiter fordert, Deutschland müsse «jetzt sofort» mit der Ausbildung ukrainischer Soldaten am Leopard beginnen, die Regierung in Warschau hat bereits konkrete Pläne. Die baltischen Staaten drängen Berlin von Tag zu Tag dringlicher, sie möge endlich ihre Zustimmung geben für Panzer-Lieferungen – wenn noch nicht für solche aus deutschen Beständen, dann aber doch wenigstens aus den Zeughäusern anderer Länder.
Und die Redaktion des Nachrichtenmagazins «Der Spiegel» will schon von einer Liste Kenntnis haben, die Kanzler Scholz in einer Schublade verwahre und die detailliert beschreibe, welche Panzer wann wohin verlegt werden können. Wer nun also voraussagt, dass das Ja-Wort aus dem Bundeskanzleramt nur noch eine Frage der Zeit sei, wagt sich nicht weit vor.
Die Ukraine braucht Panzer
Bei der Panzerfrage geht es nur vordergründig um waffentechnische Aspekte. Wesentlicher ist die Frage, welche Regierung sich welchen Kriegsverlauf vorstellt. Mit den Waffensystemen, welche die Ukraine bis jetzt erhalten hat, da sind sich die Fachleute ziemlich einig, können die russischen Streitkräfte einigermassen in Schach gehalten werden. Der Konflikt wird zu einem Stellungskrieg, in dem weder die eine noch die andere Seite grössere Gewinne verzeichnen kann. Das der Ukraine versprochenen Patriot-System wird ausserdem helfen, wenigstens einen Teil der russische Raketen und Marschflugkörper abzufangen.
So kann sich dieser von Putins Regime entfachte Krieg noch über Monate, vielleicht Jahre hinziehen. Sollte die Ukraine jedoch in die Lage versetzt werden, die russische Streitmacht zurückzudrängen, müsste sie mit effizienteren Waffen beliefert werden – mit Panzern zum Beispiel, die jenen der Russen klar überlegen wären.
Drei Szenarien
Und was dann? An diesem Punkt setzen die politischen Überlegungen an, die Szenarien für die mittelbare Zukunft. Etwas grob ausgedrückt sind es drei:
- Erstens: Rückkehr zu den fragilen Linien der Zeit vor dem 24. Februar 2022. Die von Russland unterstützten Separatisten würden also ca. 6’000 km2 im Donbass behalten, Russland die 2014 annektierte Krim. Beide Seiten würden sich auf eine Waffenruhe (noch nicht auf einen Waffenstillstand) einigen.
- Zweitens: Die westlichen Staaten unterstützen die Ukraine weiterhin so, dass sie die ganze Donbas-Region plus die Krim zurückerobern kann. Wenn dieses Ziel erreicht wäre, könnten/sollten Waffenstillstands-Verhandlungen aufgenommen werden.
- Drittens: der Abwehr-Krieg wird so weitergeführt, wie einige US-Politiker das gefordert haben, nämlich bis zu einem Punkt, da die ganze militärische Infrastruktur Russlands zerstört ist. Das würde entweder Angriffe auf Industrie-Anlagen in Russland erfordern oder eine (illusorische) freiwillige Demilitarisierung Russlands.
Ratlosigkeit
Die vehemente Auseinandersetzung um die deutschen Leopard-Panzer enthüllt die in Europa und jenseits des Atlantiks herrschende Ratlosigkeit zur Frage, wie man sich die Zukunft vorstellt. Österreichs Aussenminister, Alexander Schallenberg, plädierte für «Augenmass» gegenüber Moskau: «Russland wird immer Teil der europäischen Geschichte und Kultur bleiben.» Und: «Wir dürfen nicht den Fehler machen, Putin und seine Schergen mit Russland und seiner Bevölkerung gleichzusetzen.»
Der Sprecher des ukrainischen Aussenministeriums widersprach: Aufrufe, im Dialog mit Russland zu bleiben, stärkten «das Gefühl der Straflosigkeit des Kremls und werden ausschliesslich als Einladung wahrgenommen, den Völkermord an der Ukraine fortzusetzen». Die Ratlosigkeit widerspiegelte sich auch in zwei Äusserungen von Henry Kissinger – noch vor wenigen Wochen appellierte er an die Politiker der Ukraine und des Westens, sie sollten sich darauf einrichten, die Trennlinien von vor dem 24. Februar 2022 (pro-russische Separatisten kontrollieren «ihren» Bereich im Donbass, Russland behält die Krim) akzeptieren und so den Konflikt beenden. Danach korrigierte er sich – er erkannte, dass der Krieg Russlands alles verändert hat.
«Éviter le pire»
Unklar auch Äusserungen etwa der EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen – was meint sie genau mit der Aussage, die EU werde die Ukraine unterstützen, so lange dies «notwendig» sei? Wie lange ist «notwendig»? Bis zum erwähnten Szenario eins oder zwei oder drei?
Und schliesslich appellieren immer wieder auch Politiker, die keiner Links-Partei angehören, für eine «Vermittlung» zwischen Kiew und Moskau – der türkische Präsident Erdogan zum Beispiel, in Westeuropa eben der ehemalige französische Staatssekretär Pierre Lellouche, der sagte, die massive militärische Unterstützung Kiews sei wohl nicht geeignet, den Konflikt zu lösen: «Il convient de tenter une médiation pour éviter le pire.» Mit «éviter le pire» meint er wohl einen Krieg, in den auch die Nato-Länder verwickelt würden.
Vulgäre Wutausbrüche Medwedews
Droht eine solche Ausweitung des Konflikts, wenn der Ukraine deutsche Panzer geliefert werden und als Folge davon die russischen Truppen sich zurückziehen müssen?
Die Strategie des Kreml ist unberechenbar. Wer auf die vulgären Wutausbrüche Dmitri Medwedews, des Gefolgsmanns Putins, achtet, muss in Angst und Schrecken verfallen: Gemäss Medwedews Aussagen ist Russland kurz davor, den ganzen Westen (Nato inklusive USA) mit Atomwaffen zu attackieren. Aber wahrscheinlich weiss auch er selbst, dass die Atom-Drohung ins Leere läuft, weil sie die Zerstörung Russlands durch die Gegenseite zur Folge hätte. Woraus wir schliessen können: Der Kreml ist ratlos, seine Sprecher verstricken sich ständig in Widersprüche.
Zerrissene Politik
In Widersprüche verstrickt sich aber auch der Westen. Irgendwann müssen sich die tonangebenden politischen Persönlichkeiten der Nato-Länder darüber einig werden, wie sie sich die Zukunft der europäischen Hemisphäre vorstellen: mit einer zu einem Kompromiss gezwungenen oder einer siegreichen Ukraine; mit einem Russland «als Teil der europäischen Geschichte und Kultur» oder einem Russland, das für lange Zeit für die Verbrechen Putins und seiner Getreuen büssen soll.
Die Panzer-Kontroverse mag in dieser Langzeit-Perspektive als Marginalie erscheinen – doch das ist sie nicht. Sie zeigt beispielhaft, wie zerrissen die Politik, auch die öffentliche Meinung, in Europa zum Gesamtkomplex des Konflikts um die Ukraine ist.