„Wir haben Geschichte geschrieben“. Diesen frohlockenden Satz schrieb Obama via Twitter seinen Anhängern nach seinem Wahlsieg. Niemand zuvor hatte einen so intensiven Internet-Wahlkampf geführt wie der jetzige Präsident. Über eine halbe Milliarde Spendengelder konnte er übers Internet sammeln – und viele Millionen Stimmen. Kommentatoren prophezeiten: Dem Internet gehört die Zukunft – auch bei Wahlen.
Eine deutsche Studie, die den Bundestagswahlkampf 2009 untersucht, zeigt jetzt widersprüchliche Ergebnisse. Dass das Internet „wahlentscheidend“ ist, wie der deutsche Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) schrieb, wird angezweifelt.
Das Internet hat zu den traditionellen Medien aufgeschlossen
Die Repräsentativstudie wurde von Thilo von Pape und Thorsten Quandt vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hohenheim durchgeführt. Veröffentlicht wurde sie jetzt in „Media Perspektiven“. Tausend Wahlberechtigte wurden telefonisch detailliert befragt.
Wie weit die Erkenntnisse der deutschen Untersuchung auf andere Länder übertragen werden können, kann nur vermutet werden. Tendenziell werden sie wohl auch für die Schweiz zutreffen.
Die Studie bestätigt, was schon andere Untersuchungen ergaben: Das Internet hat zu den traditionellen Medien (Zeitung und Fernsehen) aufgeschlossen. 76,5 Prozent der Befragten gaben an, dass sie das Internet zumindest gelegentlich nutzten. Von diesen 76,5 Prozent sagten 54,9 Prozent, dass sie das Internet auch als Informationsquelle verwendeten. Fernsehen und Presse liegen zwar noch immer vorn, doch der Abstand verkleinert sich. 95,2 Prozent der Befragten sehen zumindest gelegentlich fern. 80,3 Prozent der Befragten gehören zu den Zeitungslesern – welcher Zeitungen auch immer.
Ein Drittel der Befragten informierte sich im Netz über die Wahlen
Wie viele Internet-User haben sich im Netz über den Bundestagswahlkampf informiert? Weniger als die Hälfte, nämlich 46,6 Prozent. Stellt man nun eine Rechnung mit allen auf, als auch mit jenen, die das Internet gar nicht nutzen, so ergibt sich: Ein gutes Drittel aller Befragten (35,6 Prozent) gab an, sich im Netz über den Wahlkampf informiert zu haben.
Doch diese allgemeinen Zahlen verdecken deutliche Unterschiede bei den Altersgruppen und beim Bildungsniveau. Dass die Jungen das Internet deutlich häufiger nutzen als die Älteren, ist eine Binsenwahrheit, die hier bestätigt wurde. 99 Prozent der 18- bis 24-Jährigen gelten als Internetnutzer. Nur (oder schon) 40,2 Prozent der über 65Jährigen surfen im Netz.
Und wer holt sich Informationen über die Wahlen im Internet? Auch bei dieser Frage gibt es eine Kluft zwischen alt und jung. 70,7 Prozent der 18- bis 24Jährigen haben sich im Netz mit Wahlkampfinformationen eingedeckt. Bei den über 65Jährigen sind es nur 12,8 Prozent.
Das Internet – „ein Medium der besser Gebildeten“
Allgemein wird angenommen, dass Leute mit höherer Bildung und einem höheren sozioökonomischen Status das Internet häufiger nutzen als andere. Von den höher Gebildeten benutzen 88,3 Prozent der Befragten das Internet, von den wenig Gebildeten sind es 58,9 Prozent. Das Klischee, dass das Internet „ein Medium der besser Gebildeten“ ist, wird hier bestätigt.
Von den besser gebildeten Internetnutzern haben sich 44,4 Prozent über die Wahlen im Netz informiert. Das sind mehr als doppelt so viel wie die weniger Gebildeten (21,3 Prozent).
Dominanz der politisch Interessierten
Spielt nur das Alter und die Bildung eine entscheidende Rolle? Wichtig ist auch, ob jemand politisch interessiert ist. Man kann gebildet sein und politisch uninteressiert. Und umgekehrt. Untersucht wurde in der Studie deshalb auch, wie stark sich die politisch Interessierten im Netz über die Wahlen informierten.
Das Resultat war zu erwarten: Die politisch Interessierten nutzen das Internet wesentlich häufiger als die Uninteressierten. 59,7 Prozent der politisch stark Interessierten holten sich Wahlinformationen im Netz. Auf der andern Seite sind es nur 33,3 Prozent der politisch nicht Interessierten.
Differenz bei den Parteigängern
Gibt es Unterschiede nach Parteipräferenz? Ja und nein. Die Anhänger der grossen Volksparteien CDU und SPD nutzen das Internet weniger für Wahlinformationen als jene der kleineren Parteien (Grüne, FDP, Linke). Doch das hat wieder vor allem mit dem Alter zu tun. Die Anhänger der Volksparteien sind im Durchschnitt älter als jene der kleinen Parteien. Also: Wahrscheinlich ist das Alter ausschlaggebend und nicht die Parteipräferenz.
Leitmedium Fernsehen
Auch wenn das Internet rasant an Boden gutmacht und zu den traditionellen Medien aufschliesst: Hauptinformationsquelle im Wahlkampf ist nach wie vor das Fernsehen, und zwar in allen Altersgruppen. 50,0 Prozent der 18- bis 24Jährigen informierten sich hauptsächlich im Fernsehen über die Wahlen. Demgegenüber holten sich 32,7 Prozent der Jungen ihre Wahlinformationen vor allem im Netz. Bei den Älteren dominiert das Fernsehen noch mehr: 63,6 Prozent der über 65Jährigen informierten sich am Fernsehen über die Wahlen, nur 1,1 Prozent im Internet.
(Eine amerikanische Studie, die nach der Wahl Obamas durchgeführt wurde, zeigt Unterschiede zu Deutschland: Für die Älteren ist in den USA das Netz wichtiger als in Deutschland.)
Welche Informationen werden übers Netz bezogen?
Betrachten wir jetzt nur jene, die sich im Internet über die Wahlen informieren. Wie informieren sie sich? Was klicken sie an? Am meisten informieren sich die Nutzer aller Altersklassen über sogenannt „eingebettete Nachrichten“ – also Nachrichten von Dritten, die auf Suchmaschinen offeriert werden, z.B. Google News. An zweiter Stelle folgen die Websites der Parteien und Kandidaten (51,4 Prozent). Die Online-Auftritte der Fernsehstationen folgen mit 31,4 Prozent an dritter Stelle. Die Tageszeitungen liegen nach den Zeitschriften und Foren auf Platz sechs.
Facebook, Twitter, Xing
Nach der Wahl Obamas und seinem massiven Einsatz sozialer Netzwerke prophezeite man überschwänglich eine „Internet-Demokratisierung“ der Gesellschaft. Dank dieser sogenannten „Web 2.0“-Angebote könnten sich alle einbringen, sie könnten mitwirken und sagen, was sie sagen wollen. Facebook, Twitter, MySpace, Xing, Instant messenger und all die andern würden einen „partizipativen Wahlkampf“ mit einer ungeahnten Dynamik ermöglichen.
Das Ergebnis der deutschen Untersuchung ist ernüchternd. Die sozialen Netzwerke spielen im Wahlkampf kaum eine Rolle. Die Nutzungszahlen von Blogs, Foren und sozialen Netzwerken sind bei allen Alterskategorien und sowohl bei den politisch Interessierten und Nichtinteressierten überraschend tief. Zieht man alle Informationsquellen, die im Wahlkampf genutzt wurden, in Betracht, so liegen die sozialen Netzwerke an letzter Stelle. „Sie spiegeln keinesfalls den grossen Hype um diese Angebote wider“, schreiben die Autoren der Untersuchung.
Und wenn die User auf die sozialen Netzwerke zurückgreifen, dann meistens „nicht aktiv partizipierend, sondern als passive Beobachter“. Es seien „erhebliche Zweifel“ anzumelden, schreiben die Autoren, „ob diese Form der Beteiligung von einem Grossteil der Bevölkerung überhaupt nachgefragt wird.“ Doch immerhin: 24,3 Prozent der 18- bis 24Jährigen haben die sozialen Netzwerke zur Informationsbeschaffung im Wahlkampf benutzt.
Die Internet-Muffel vergeben eine Chance
Versucht man ein Fazit der Studie zu ziehen, so ergibt sich ein differenziertes Bild. Das Internet war bei den Bundestagswahlen 2009 nicht wahlentscheidend, wie der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien (BITKOM) voraussagte. Und dennoch:
Pauschal behauptet man, die ältere Generation fühle sich im Internet kaum angesprochen. Aber immerhin sind heute schon 40 Prozent der Älteren regelmässig online. Und fast 13 Prozent der über 65Jährigen fischen sich Wahlinformationen aus dem Netz. Das mag als wenig erscheinen, doch bei Wahlen und Abstimmungen können auch wenige Stimmen viel bewirken. Da man weiss, dass die Älteren häufiger wählen und stimmen gehen als die Jungen, sind diese 13 Prozent nicht unwesentlich.
Die Untersuchung zeigt ferner, dass das Internet vor allem von besser Gebildeten benutzt wird. Und sie sind es, die häufiger an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen als die nicht Gebildeten. Wieder ein Argument für einen Internet-Wahlkampf.
Doch das Wichtigste: Aus vielen Studien wissen wir, dass die Jungen kaum mehr richtige Zeitungen lesen. Das Internet ist – neben dem „en passant“ konsumierten Fernsehen – das einzige Medium, über das die Jungen heute gezielt angesprochen werden kann.
Zwar finden sie weniger oft den Gang an die Urnen: Trotzdem haben sie bei Wahlen und Abstimmungen ein kleines, aber vielleicht wichtiges Gewicht. Dazu kommt: Die Jungen werden älter. Also wird das Internet zunehmend auch in älteren Generationen Fuss fassen.
Die deutsche Studie legt den Schluss nahe, dass ein Internet-Wahlkampf wahrscheinlich (noch) nicht entscheidend für den Ausgang der Wahlen ist. Doch er kann das Ergebnis beeinflussen. Im welchem Ausmass wissen wir noch nicht.
Die Politik tut also gut daran, das Internet nicht zu vernachlässigen. Die Internet-Muffel unter den Politikern vergeben sich eine Chance.