Doch ist Indien überhaupt noch ein armes Land? Soeben hat Grossbritannien das Ende seiner Entwicklungshilfe angekündigt. Und erst vorige Woche erklärte die Regierung in Delhi, die Quote der Armen sei auf unter 30 Prozent gesunken.
War dies politisch frisierte Arithmetik, um dem Publikum zu beweisen, wie ernst es dem Staat mit der Armutsbekämpfung ist? Es scheint so. Klammheimlich reichte er nämlich kurz darauf die Definition von Armut nach: Wer auf dem Lande mehr als 23 Rupien, in den Städten 28 Rupien pro Tag ausgibt, ist nicht mehr arm.
Die Frage der Kaufkraft
Umgerechnet in Schweizer Franken ist das herzlich wenig. Der den Armen zugebilligte Betrag entspricht gerade mal 50 bis 60 Rappen. Er deckt nicht einmal die Grundnahrungskosten: Ein Liter Milch kostet 35 Rupien, ein Ei kostet 6, ein Kilogramm Reis, wenn der Rationenladen wieder einmal leere Gestelle vorweist, 20 Rupien. Erhöhte Kaufkraft? Ich war kürzlich in einem Dorf, wo Familien es sich nicht leisten können, ihr Kind in eine Tagesstätte zu schicken (und der Mutter Lohnarbeit zu ermöglichen), falls die Kosten acht Rupien übersteigen – pro Monat.
Und falls eine ‚nicht-mehr-arme‘ Lakshmi krebskrank wird und der Arzt ihr das Mittel Nexavar verschreibt, kostet dieses die Kleinigkeit von 280‘000 Rupien. Mal zehn, denn der Behandlungszyklus läuft zehn Monate. Lakshmi müsste also, selbst wenn sie täglich 50 Rupien verdient und ausgeben kann, und keinen Tag freimacht, 172-jährig werden, um sich die Behandlung zu leisten.
Zahlenjonglieren? Gewiss, denn viele Inder werden gar nicht so alt, um krebskrank zu werden. Und die Krankenversicherungen? Es gibt sie, aber nur 10 Prozent der Menschen können sich eine leisten.
Den Patentschutz umgehen
Ich erwähne Nexavar, nicht weil es das teuerste Arzneimittel ist, sondern weil es in Indien gar nicht erhältlich ist. Bei diesen Kosten ist der Markt dafür so klein, dass sich für die Patenteignerin Bayer die Mühe nicht lohnt. Dies hielt die Firma aber nicht davon ab, es im Land als Patent anzumelden. Sie wollte, verständlicherweise, verhindern, dass indische Firmen Generika gegen Nieren- und Leberkrebs entwickeln und Bayer damit später einmal den Absatz verderben, vielleicht auch im Ausland.
Man kennt ja die Inder: Jahrzehntelang, während das Land keine Produkte-Patente kannte (nur der Herstellungsprozess konnte geschützt werden), wurden indische Chemiker Weltmeister darin, bekannte Medikamente über andere chemische Verbindungen zu entwickeln und damit den Patentschuitz zu umgehen. Mit dem Resultat, dass das Land heute weltweit zu den grössten Generika-Herstellern gehört.
Zu ihnen gehört auch die kleine und relativ unbekannte Firma Natco aus Hyderabad. Mit dem geringen Bekanntheitsgrad dürfte es nun allerdings ein Ende haben. Soeben hat Natco von der Arzneimittelbehörde die Bewilligung erhalten, das generische Äquivalent von Nexavar – Sorafenib-Tosylat – herzustellen, und zwar ohne Verletzung des WTO-Regimes über den Schutz geistigen Eigentums. Dieses gibt einem Mitgliedstaat nämlich das Recht, eine ‚Zwangslizenz‘ zu erteilen, falls die Patentbesitzerin das Produkt nicht auf den Markt bringt. Nun hat Indien zum ersten Mal von diesem Recht Gebrauch gemacht und dem Gesuch von Natco stattgegeben, Bayer den Exklusivschutz zu entziehen.
Wie wichtig ist die Forschung?
Zweifellos wird Bayer die Gerichte anrufen. Dennoch ist schon heute klar, dass der Entscheid weitreichende Folgen haben wird. Und weil die Erteilung von Zwangslizenzen auch in anderen Entwcklungsländern sehr selten ist, dürfte es auch auf dem globalen Markt Bewegung auslösen. Es könnte die Pharma-Multis nämlich zwingen, den Forderungen von Entwicklungsländern stattzugeben, für arme Länder unterschiedliche Preise zu fordern. Die Hersteller bekennen sich zwar immer wieder zum ethischen Ziel, den Zugang zu Gesundheitsmitteln auch armen Patienten zu ermöglichen. In der Praxis verstecken sie sich aber hinter dem Argument, dass es „ohne Patentschutz keine Forschung“ gibt, „ohne Forschung keine innovativen Arzneimittel, und ohne diese keinen effektiven Gesundheitsschutz“.
Das Zitat stammt von Ranjit Shahani, dem Chef von Novartis India. Prononciert und aggressiv wie sein Chef Daniel Vasella ist er immer der Erste an der Front, wenn sie den Patentschutz als Allheilmittel für die Gesundheitsversorgung in Gefahr sehen. In der ‚Times of India‘ gab er seiner Replik auf die Zwangslizenz die Aufschrift: ‚Long-term damage to future health of the world to be dramatic‘. “Indien sollte sich um die viel ernsthafteren Blockierungen der Gesundheitsversorgung kümmern, statt die Wurzeln der Innovation anzugreifen“.
Novartis und Bayer
Niemand war erstaunt, dass gerade Novartis sich als Erste in die Breschen des sakrosankten Patentschutzes schlägt. Indien ist seit Jahrzehnten ein Lieblings- bzw. Angstgegener der Basler. Seit 2003 liegt Novartis mit der Arzneimittelbehörde im Rechtsstreit um das Krebsmittel Glivec. Dessen Patentschutz läuft in einigen Jahren aus, und Novartis hat deshalb ein Nachfolgeprodukt entwickelt und als ‚neuartig‘ beim Patentamt angemeldet. Dieses sprach Glivec aber die erhöhte Effizienz ab und behandelte es als ‚Evergreening‘ eines Dauerbrenners, das den kleiner werdenden Korb neuer Produkte füllen soll. Novartis zog seine Rechtsklage durch die Instanzen und wartet jetzt auf den endgültigen Entscheid des Obersten Gerichts.
Um sich nicht den Ruf sozialer Kälte einzuhandeln, gibt Novartis Glivec armen Patienten gratis aus. Gleichzeitig will es damit verhindern, die Front des Patentschutzes durch Preisnachlässe aufzuweichen. Gerade diesen Weg scheint nun aber der ewige Basler Konkurrent einzuschlagen. Am letzten Freitag – eine Reaktion auf die Bayer-Zwangslizenz – kündigte Roche an, es werde ab sofort billigere Varianten der Medikamente Herceptin und Mabthera auf den indischen Markt bringen. Eine Vertragsfirma werde diese in Lizenz produzieren und unter ihrem generischen Namen vermarkten.
Geld statt Rat
Der Herceptin-Klon wird fortan nur einen Bruchteil seines Marktpreises von über 100‘000 Rupien kosten. Auch Natco wird sein Nexavar-Nachahmeprodukt für rund 8000 Rupien auf den Markt bringen. Die anfangs erwähnten Kaufkraft-Zahlen machen jedoch klar, dass sich eine arme Inderin auch keine Generika leisten kann. Insofern hat Shahani sicher recht: Das Problem der Gesundheitsversorgung geht viel tiefer als das Schauboxen vor den Gerichten. Gerade 2.5 Prozent des Budgets – rund 6.5 Milliarden Franken – fliessen jährlich in die Gesundheitsversorgung (und mickrige 40 Millionen Franken in die Krebsbekämpfung) – bei 90 Prozent nichtversicherten Indern.
Wie bei anderen chronischen Problemen Indiens ist zu befürchten, dass die Regierung auch hier ihr Allheilmittel einsetzen wird: mehr Geld an das Problem werfen, weil der Staat ratlos ist, wie er Armut effizient bekämpfen kann. Bereits melden sich Politiker, die vom Staat die Gratis-Abgabe von Medikamenten fordern. Wie bei den bisherigen Gratis-Armutsprogrammen würde dann auch hier das Meiste wieder versickern. Und die Armen werden sich mit gepfuschten Pillen ein bisschen Placebo-Hoffnung erkaufen.