Keine Frage: Raffael malte wunderbare Madonnenbilder, und er malte sie in grosser Zahl und mit einer enormen Bandbreite an Variationen: Manche der jungen, oft blonden und sorgfältig coiffierten Mütter gleichen sich, doch jede blickt ihr Kind oder uns als Betrachterinnen und Betrachter anders an. Jede hält das Kind anders im Schoss. Ihre Kleider sind blau, grün und rot, doch stets anders gefaltet, ebenso die Schleier, die das Gesicht der Madonnen umschmeicheln. Einmal sitzt sie, mit dem Jesus- und dem Johannesknaben spielend, vor lieblicher Landschaftskulisse. Dann wiederum zeigt Raffael sie als strenge Halbfigur vor dunklem Hintergrund. Oder sie präsentiert sich und ihr Kind in theatralischem Auftritt, flankiert von sich bauschenden dunkelgrünen Vorhängen, auf einer Wolke zwischen Papst Sixtus II. und der heiligen Babara.
Die Engelchen als Stars
Dieses Grossformat ist weltberühmt: Die „Sixtinische Madonna“, von Papst Julius II. in Auftrag gegeben für die Kirche San Sisto in Piacenza, gemalt 1512/13.
August III. von Sachsen wollte unbedingt einen Raffael haben, kaufte 1754 das Bild und liess es in abenteuerlichem Transport über den verschneiten Brenner nach Norden bringen. Nun ist es ein Paradestück der Gemäldegalerie der Alten Meister in Dresden. Berühmt ist das Bild vielleicht gar nicht wegen der jungen Frau mit dem Kind im Arm, die über die Wolken tänzelt, sondern wegen der beiden pausbackigen Engelchen, die am unteren Bildrand sitzen und gelangweilt nach oben blicken: Sie sind – auf Postkarten, auf Bonbon-Dosen oder als süsslicher Schmuck zahlreicher anderer Souvenirs – die Stars im Dresdener Museums-Shop.
Raffael – der Madonnenmaler: Zwei grosse Schweizer Zeitungen feierten den Renaissance-Künstler am vergangenen Wochenende vor allem als Schöpfer dieser Bilder. Die NZZ titelte: „Raffaels Madonnen!“. „Die Schweiz am Wochenende“ (CH Media) bildete die erwähnten Engelchen beinahe seitengross ab. Beide Zeitungen setzten in ihren Texten und Illustrationen den Akzent genau auf dieses Klischee vom frommen und zarten Malerjüngling, der sich 1506 als 23-Jähriger mit schmachtendem Blick selbst porträtierte. Diese Madonnen-Bilder hingen in den Schlafzimmern der Generation unserer Grosseltern, und sie lagen als Frömmigkeitsanreiz in goldschnittgeschmückten Gebetsbüchern.
Ikonen der Mütterlichkeit
Nichts ist gegen all das einzuwenden, denn mit diesen Bildern, denen wir in der Pinakothek München, im Kunsthistorischen Museum Wien, in der National Gallery in London, in der Galleria Borghese in Rom, in der National Gallery of Art in Washington, im Prado in Madrid, im Palazzo Pitti und in den Uffzien in Florenz begegnen, schuf der Maler aus Urbino Ikonen der Mütterlichkeit weit über die Welt des Katholizismus hinaus. Und er tat das immer wieder mit grandiosen kompositorischen Einfällen, wie ein Blick auf die „Madonna della Seggiola“ (1513/14, Palazzo Pitti, Florenz) zeigt:
Man achte nur das Spiel der Blicke Marias, des Jesus- und des Johannesknaben, oder man beachte die in virtuoser Verkürzung gemalten Füsse des Jesusknaben, das Geflecht der Linien und den delikaten Einsatz der Farben.
Die heilige Margareta
Wer bei diesen Madonnen bleibt, wird der Bedeutung des Künstlers nicht gerecht und bleibt beim Klischee, das erst mit der auf diesem Raffael-Bild basierenden Frömmigkeitskunst des ausgehenden 19. Jahrhunderts verschwand. Er blendet jenen Raffael aus, der eben nicht nur in wohl genialer Weise das Erbe seines Lehrers Pietro Perugino weiterführte, sondern in manchen Werken der Kunst völlig neue Horizonte erschloss.
Ein Beispiel ist die um 1518 entstandene Darstellung der heiligen Margareta (Kunsthistorisches Museum Wien), die sich schon um 1650 in der Sammlung des Habsburgers Leopold Wilhelm in Brüssel befand.
Auf David Teniers’ Bild „Erzherzog Leopold Wilhelm in seiner Galerie in Brüssel“ (um 1650) ist es zu erkennen – neben manch anderen prominenten Werken der Wiener Sammlung. Raffael zeigt die Heilige in einer düsteren Schlucht, in den Händen ein Kruzifix, vor ihr ein riesiger Drache, der sich mit weit geöffnetem Maul um die Heilige windet. Die Komposition betont die Diagonalen: Margareta blickt nach links unten auf das Maul des Untiers. Ihr Körper ist dabei leicht nach links geneigt. Das Kreuz zeigt nach rechts oben, wo ein Stück des hellblauen Himmels leuchtet. Dieses Blau findet sich wieder im Kleid, das sich wie ein nasses Stück Stoff um den Körper der Frau schmiegt und ihre Brust und Schenkel akzentuiert. Ein harter Lichtstrahl fällt von oben links auf die Figur, deren erotische Ausstrahlung zur Legende um die Heilige passt: Die schöne Tochter eines Edelmannes aus Antiochia war Christin und lehnte es darum ab, einen heidnischen Freier zu erhören. Sie blieb standhaft gegenüber der Versuchung, die in Gestalt des lüsternen Drachens auf sie eindrang. Sie wehrte ihn mit dem Kruzifix ab. Später wurde sie enthauptet.
Das Werk bezieht seine Attraktivität aus einer geradezu heftigen Farbigkeit, die üblichen Raffael-Klischees widerspricht, aber ebenso aus den Drehmomenten in der Gestalt Margaretas und im Drachenleib. Das sprengt eine ruhig-gemessene Renaissance-Komposition, wie sie für jene Zeit typisch war.
Die „Verklärung Christi“
Bei dieser der Dramatik des Bildgeschehens erinnert jedenfalls nichts an die sanften Madonnenbilder – ausser vielleicht der gesenkte Blick der jungen Frau und ihre geordnet-blonde Haartracht. Der Maler dringt mit diesem Werk weit in die neue Epoche des Manierismus vor.
Das Werk steht damit im Oeuvre Raffaels nicht allein. Vieles vom Gesagten trifft auch zu auf die „Transfiguratio“ („Verklärung Christi“, Vatikanische Pinakothek), die beim Tod des Künstlers noch nicht ganz vollendet war.
Raffael widmete sich in diesem monumentalen und – formal wie inhaltlich – weit komplexeren Werk zwei verschiedenen Themen: Oben schwebt der verklärte Christus, flankiert von Moses und Elias, vor einer hellen Lichtfülle am Himmel. Geblendet sind Petrus, Johannes und Jakobus zu Boden gestürzt. Die untere Partie erzählt eine andere biblische Episode: Die Apostel (links zu sehen) versuchen einen vom Teufel besessenen Knaben, der gerade einen Anfall erleidet, zu heilen – vergeblich: Eine höchst aufgewühlte Szene mit sehr vielen Figuren, die der Künstler mit virtuosen Kunstgriffen zur dynamischen Gruppe komponiert.
Auch mit diesem Werk verlässt Raffael die Welt seiner schönen Madonnen-Andachtsbilder und eilt der Kunst seiner Zeit weit voraus, was bildimmanente Spannungen, was die Lichtführung, die an den um Generationen jüngeren Caravaggio gemahnt, und was die Raumorganisation betrifft. Beispiel für diesen letzten Aspekt ist die Frauenfigur, die uns den Rücken zuwendet: Solch raumbildende Elemente gehören im Grund erst zu den Errungenschaften der Barockmalerei. Auch die Farbigkeit des Gemäldes wirkt extrem und mitunter grell, wie man sie im Manierismus kennt. Wer das Werk vor Jahrzehnten sah und ihm kürzlich wieder begegnete, wird staunen ob der Resultate einer gründlichen Restauration, welche diese Licht- und Farbenfülle erst wieder zutage gefördert hat. Man fühlt sich unwillkürlich an die Wunder erinnert, welche die Restaurierung der Sixtina-Fresken Michelangelos gewirkt hat.
„Befreiung Petri“ und „Triumph der Galatea“
Die Suche nach Werken Raffaels, welche die üblichen Klischee-Vorstellungen sprengen, führt weiter zu den abenteuerlichen Lichteffekten in der „Befreiung Petri“ in der „Stanza di Eliodoro“ im Vatikan (1511–1514). Im Vergleich dazu wirken manche berühmtere Werke Raffaels, die „Sixtinische Madonna“ in Dresden zum Beispiel, erstaunlich bieder und brav.
Ein völlig anderes Raffael-Bild bekommt auch zu sehen, wer die Villa Farnesina in Rom besucht. Der Künstler malte den Landsitz 1514 im Auftrag des schwerreichen und wohl prunksüchtigen Bankiers Agostino Chigi aus, dessen opulente Gastmähler im damaligen Rom sprichwörtlich waren. „Der Triumph der Galatea“ ist ein Fresko von komplexer Ikonographie und erfrischender (heidnischer) Lebensfreude: Die schöne Nymphe segelt, von Eroten mit ihren Pfeilen aufs Korn genommen, auf einer von Delphinen gezogen Muschel inmitten von im Wasser spielenden Tritonen und Meeresgöttern übers Meer. Aber auch die Akte in den Zwickeln der „Amor und Psyche“-Galerie widersprechen mit der sehr direkten und mitunter prallen Sinnlichkeit ihrer Nacktheit jedem süsslichen Raffael-Klischee.
Da zeigt sich zweierlei: Raffael huldigt wie in kaum einem anderen Werk antikem Lebens- und Liebeskult. Andererseits zeigen sich in der Gestaltung der Akte Spuren seiner Begegnung mit Michelangelos Werken in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan, die wenige Jahre zuvor vollendet waren. Sehr direkt auf die Sibyllen Michelangelos in der Sixtina bezog sich Raffael auch in seinen Fresken der Chigi-Kapelle in Santa Maria della Pace (1514).
„Fornarina“ als Liebeserklärung
Auch in einem seiner letzten Werke, jetzt wieder im Format der Madonnen-Andachtsbilder, betrat Raffael Neuland. Das betrifft nun nicht Formales, wohl aber die Intimität der Atmosphäre. Es ist das Porträt seiner Freundin Margherita Luti, der „Fornarina“ („Bäckerstochter“, 1518/19, Galleria d Arte anticha, Palazzo Barberini in Rom).
Obwohl die junge Schöne auch als Madonna Modell sass, zum Beispiel für die erwähnte „Madonna della Seggiola“, ist man versucht, angesichts dieses Porträts von einer „Gegen-Madonna“ oder einer sehr persönlichen Liebeserklärung zu sprechen. Margherita blickt den Maler – und damit auch uns als Betrachterinnen und Betrachter – aus pechschwarzen Kirschenaugen an. Ihre Gesichtszüge sind scharf geschnitten und ebenmässig. Ihr schwarzes und streng gescheiteltes Haar bedeckt ein kostbares, zu einer Art Turban drapiertes Tuch, an dem eine Perle hängt. Ihre rechte Hand fasst an die nackte Brust, die das leichte und über die weiche Schulter gerutschte Hemd freigibt. Die rund 30-jährige „Fornarina“ wirkt keck und lebensfreudig. Das Madonnenhaft-Mütterliche, das sie, wenn sie zuvor die Mutter Jesu mimte, ausstrahlte, ist verschwunden. Am Oberarm trägt sie einen Reif: In goldenen Lettern auf blauem Grund lesen wir „RAPHAEL URBINAS“. Wenn das keine Liebeserklärung ist!