Helmut Schmidt und die Medien – eine schier endlose Geschichte. Nur wenige Minister neben ihm und kein Bundeskanzler vor und nach ihm hatten eine vergleichbare Gabe, sich und ihre Worte in ähnlicher Weise zu präsentieren und zu arrangieren wie der Mann aus Hamburg. „Wegelagerer“ nannte er mehr als nur einmal die Journalisten – und wusste doch nur zu genau, wie sehr er die Reportermeute und die Kommentatoren in den Redaktionen brauchte, um sich und seine Sicht der Dinge daheim und in der Welt unters Volk zu bringen. Dafür hatte sich Schmidt gute Leute als „Sprecher“ zur Seite geholt: In seiner Zeit als Verteidigungsminister den ebenso eloquenten wie sachkundigen Armin Halle von der „Süddeutschen Zeitung“ und später im Kanzleramt den erfahrenen Fernsehmann Klaus Bölling. Beide absolut loyal zu ihrem Chef und trotzdem gleichzeitig im Kreis der „Schreiber- und Senderlinge“ geschätzt und akzeptiert.
Eine freiwillige Nachrichtensperre
Nur auf dieser Basis konnte ja auch eine Abmachung funktionieren, die in der deutschen Pressegeschichte einmalig war – und dies vermutlich auch bleiben wird. Es geschah im so genannten „deutschen Herbst“ 1977, in den dramatischen Wochen der Entführung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer (nicht zu vergessen auch der Ermordung seiner Begleiter) durch RAF-Terroristen und der wenig später nach dem Start in Mallorca von palästinensischen Gesinnungs-„Freunden“ gekidnappten Lufthansa-Maschine „Landshut“ nach Mogadischu. Auf der Jagd nach Informationen, ja möglichst nach Sensationen, erschienen täglich Stories, in denen Wahrheit, Halbwahrheit und pure Erfindung wie Kraut und Rüben durcheinander gingen. In dieser Situation traf der seinerzeitige Vorstand der Bundespressekonferenz (der Vereinigung der Bonner Parlamentskorrespondenten) mit Schmidts Regierungssprecher Bölling zusammen. Denn man war sich einig, dass dieser Zustand unhaltbar war – sowohl mit Blick auf die Geiseln, als auch für die polizeiliche Ermittlungsarbeit, aber genauso hinsichtlich einer auch nur einigermassen seriösen Unterrichtung der Öffentlichkeit.
Nun muss man wissen, dass die Bundespressekonferenz (BPK) nur eine einzige Aufgabe hat – nämlich Pressekonferenzen zu veranstalten und zu leiten. Sie besitzt (genauso wenig wie ihr jährlich zu wählender Vorstand) keinerlei Befugnisse, etwa medien- bzw. allgemeinpolitisch tätig zu werden oder gar Absprachen zu treffen. Trotzdem (also ohne jegliche Autorisierung durch die Mitglieder) sagte die damalige BPK-Spitze dem Regierungsvertreter zu, man werde bis auf Weiteres das Thema äusserst zurückhaltend behandeln. Mit anderen Worten: Eine freiwillige Nachrichtensperre. Dies allerdings unter der Voraussetzung, dass man während dieser Zeit laufend über wichtige Entwicklungen unterrichtet werde. Alle Bonner Korrespondenten, auch die Auslandspresse, billigten die Abmachung und hielten sich daran. Bis die Befreiung der „Landshut“-Passagiere in Mogadischu und die Entdeckung des erschossenen Schleyer eine neue Situation schufen. Aber die danach geschriebenen Artikel enthielten wirkliche Substanz.
Die Convair namens „Fliegender Puff“
Wir schreiben den 8.Februar 1971. In der Sonthofener Ordensburg läuft die Kommandeurstagung der Bundeswehr. Drängendstes Thema in jenem Jahr: Wie stellt sich die Truppe auf die seit Mitte der 60er Jahre steigende Zahl junger Männer ein, die sich auch in den Kasernen nicht von ihrer (neu)modischen Haarpracht trennen wollen?
Verteidigungsminister Helmut Schmidt ist gespalten. Einerseits sorgt er sich um das Erscheinungsbild der Soldaten draussen. Zum andern indessen „ist es mir wichtiger, was die jungen Männer im Kopf, statt auf demselben haben“. Schmidt hatte, erst nach ausgiebigem Zögern, 1969 dem Drängen Willy Brandts nachgegeben und in der mit der FDP neu gebildeten sozialliberalen Koalition das Wehrressort übernommen. Dann jedoch trat er den Posten in der festen Absicht an, die Bundeswehr zu reformieren – ja, wenn es sein müsste, in Teilen sogar umzukrempeln.
Das „Rüstzeug“ dazu besass er ohnehin. Seit langem schon galt sein Hauptinteresse der Aussen- und damit natürlich auch der Sicherheitspolitik. Er gehörte seit jeher zu den Sozialdemokraten, die in der Partei vehement darauf hin arbeiteten, die historische Barriere der SPD zur bewaffneten Macht abzubauen. Wie hätte er sich da der Bitte des Kanzlers entziehen können? Nun ging er also mit Wucht die Reformen an: Umfassende Bestandsaufnahme und Zustandsbeschreibung der Armee im „Weissbuch der Bundeswehr“, Gründung der BW-Universitäten in Hamburg und München zur Begleitung der Offiziersausbildung, Abbau des Beförderungsstaus usw. Gemessen daran war das Problem mit den Haaren Kleinkram. Dafür aber höchst öffentlichkeitswirksam. Schmidts Pressesprecher Armin Halle hatte zur Berichterstattung über die jährliche Konferenz der Generäle und Admiräle eine Gruppe Bonner Journalisten eingeladen und dazu eine Maschine der Flugbereitschaft der Bundeswehr geordert. Dies war eine Convair 340 mit zwei Propellermotoren, die – so erzählte man sich – bereits von US-Präsident Kennedy im Wahlkampf eingesetzt worden war. Jedenfalls war die Inneneinrichtung ungewöhnlich: Schokoladenfarbene Sitzgruppen aus Kunstleder, weinrote Wandverkleidungen – ein wenig wie die Bar eines amerikanischen 2-Sterne-Hotels. In der Luftwaffe hatte der Flieger freilich (warum auch immer) den Namen weg: „Fliegender Puff“.
740´000 olivfarbene Haarnetze
Kurz und gut – am Ende der Sonthofener Kommandeurstagung stand die Zentrale Dienstvorschrift (ZDV) 10/5. In ihr war vorgegeben, wie der langhaarige Soldat (Frauen gab es seinerzeit ja noch nicht in der Truppe) von nun an Dienst und Mähne miteinander in Einklang bringen sollte. Es ging ja keineswegs bloss um das äusserliche Erscheinungsbild, sondern (und dies jetzt ernsthaft) auch um die Sicherheit am Arbeitsplatz. Etwa darum, dass sich die langen Haare nicht in eine Maschine wickelten und es zu Unfällen kommen könnte. ZDV 10/5 war der berühmte „Haar- und Barterlass“. Wer sich von der modischen Frisur partout nicht trennen wollte, musste jetzt ein Haarnetz tragen – ein oliv-farbiges. In der Folge kaufte das Bundeswehr-Beschaffungsamt in Koblenz für 180´000 D-Mark 740000 Haarnetze in der Farbe oliv. Dem Schmidt-Erlass war freilich kein langes Leben beschieden. Er wurde bereits im folgenden Mai wieder zurückgezogen. Hauptgrund: Der Hohn und Spott vor allem aus dem angelsächsischen Ausland, der in der Bezeichnung „German Hair Force“ (Deutsche Haar-Armee) gipfelte. Dem Minister brachte die im Allgäu geborene, kurzlebige ZDV 10/5 immerhin den Aachener „Orden wider den tierischen Ernst“ ein.
Ein absoluter Hit dagegen entwickelte sich aus Schmidts Anregung, der Bundeswehr zusätzlich zu den traditionellen Musikkorps eine Big Band zu geben. „Eine moderne Armee“, sagte er zu Beginn der 70er Jahre, „braucht auch moderne Musik“. Helmut Schmidt selbst liebte den Swingsound von Glenn Miller und sah in dessen Kapelle auch das Vorbild für seinen Plan. 1971 holte er dafür vom Westdeutschen Rundfunk den jungen Kapellmeister Günter Noris, der dann freie Hand bei der Auswahl der geeignetsten Musiker hatte. Und tatsächlich konnte Noris dem Minister bereits nach einem Jahr die Big Band der Bundeswehr „einsatzbereit“ melden. Am 26. Mai 1972 erfolgte ihr erster öffentlicher Auftritt – vor 80´000 Zuschauern bei der Einweihung des Münchener Olympiastadions. Günter Noris dirigierte „sein“ Orchester bis 1983; er starb 2007. Aber die von ihm aufgebaute Band begeistert unverändert bis heute mit ihrer Klasse die Masse.
Eine gefürchtete Frage
Mit Helmut Schmidt auf Reisen zu gehen, bedeutete zunächst jedes Mal von neuem, ein Ritual zu überstehen, das an eine Frage geknüpft war. Schmidt, inzwischen (1974) Bundeskanzler, kam fast immer ziemlich schon bald nach dem Start der Maschine aus dem VIP-Bereich zur Delegation und zu den Presseleuten in der „Holzklasse“. Und dann als erstes die gefürchtete Frage: „Weiss hier jemand einen neuen Witz?“ Selbst wenn jemand tatsächlich einen solchen parat gehabt haben sollte – allein der eher nach einem Verhör als nach einer blossen Erkundigung klingende Kasernenton hat in aller Regel die Absicht gekillt, den Witz auch tatsächlich zu erzählen.
Dabei besass der schneidige Politiker durchaus Humor, selbst wenn er selber die Zielscheibe war. Oder, besser noch, wenn ihm jemand schlagfertig Paroli bot. Wie zum Beispiel einmal auf dem Flughafen in Köln/Bonn. Der Kanzler war 1980 aus den USA gekommen, und unten an der Gangway standen, wie üblich, Fotografen und Agentur-Journalisten. Möglicherweise noch unausgeschlafen, grummelte Schmidt deutlich hörbar: „Ganz egal, wo ich in der Welt aus dem Flugzeug steige, sehe ich immer dieselben dummen Gesichter vor mir“. Wie aus der Pistole geschossen schallte es darauf vom Asphalt: „Sie werden es nicht glauben, Herr Bundeskanzler, von hier unten sieht es genauso aus“. Schmidts Reaktion: Schallendes Lachen…
Ein schwieriger Besuch
Im November 1977 besuchte Helmut Schmidt Polen. Aus diversen Vorgesprächen wusste man als Mitreisender, dass der Kanzler den Warschauer Ministerpräsidenten Edward Gierek – in dem er fast schon einen Freund sah – für den Gedanken gewinnen wollte, in Moskau für mehr politische Bewegungsfreiheit der kleineren Ostblockländer zu werden; so wie er dies selbst in Washington zugunsten der westlichen europäischen Verbündeten zu tun gedachte. Daraus wurde nichts. Trotzdem hinterliess die Reise Schmidts Spuren. Und dies, obwohl sie mit ihrem Symbolwert ja eindeutig im Schatten des berühmten Kniefalls von Willy Brandt sieben Jahre zuvor in Warschau stand. Helmut Schmidt war dafür nach Ausschwitz gefahren, als erster westdeutscher Regierungschef überhaupt. Und was er dort sagte, am Platz der schlimmsten Taten, die Menschen anderen Menschen antun können, das wurde ohne Zweifel zum Massstab jeder künftigen Polen-Politik: „Unser politisches Handeln darf an Ausschwitz nicht vorübergehen, aber es darf dort auch nicht stehen bleiben…“.
Der Hanseat Helmut Schmidt liess keine Gelegenheit aus, um die Weltoffenheit seiner Heimatstadt zu betonen – nicht zuletzt ihre innere Nähe zu den Angelsachsen. Geradezu genüsslich liess er deshalb, wo immer es möglich war, sein vorzügliches Englisch hören. Und im Umgang selbst mit vertrauten Personen praktizierte er britische Umgangsformeln. So sprach er zum Beispiel den ihm nun wirklich nahestehenden Regierungssprecher Bölling zwar mit „Klaus“ an, dann jedoch folgte das distanzierende „deutsche“ Sie. Also etwa so: „Klaus, haben Sie darauf geachtet, dass…“. Das blieb auch so noch viele Jahre nach Schmidts Ausscheiden aus der Tagespolitik und Böllings Umzug in seine Geburts- und Heimatstadt Berlin. Eines Tages jedoch, wir hatten uns in Berlin in einem italienischen Restaurant zum Essen verabredet, sagte Klaus Bölling plötzlich mit hörbar freudiger Stimme: „Ich verrate Ihnen jetzt ein kleines Geheimnis: Der Hamburger und ich – wir duzen uns seit kurzem“.
Jetzt, nachdem beide gestorben sind, darf das „kleine Geheimnis“ gewiss offenbart werden.