Diese Kernfrage nach dem Wert des Wissens kann auf jedem Gebiet gestellt werden. Zum Beispiel auch auf jenem der Weinkennerschaft. Hier lehrt sie uns einiges. Nicht nur über Wein.
Wer etwas auf sich hält, gibt sich heute gern als Weinconnaisseur zu erkennen. Die demokratisch-egalitäre Gesellschaft hat zwar die alten Standesunterschiede abgeschafft, aber der Wille zu Noblesse und Distinktion ist geblieben und er scheint sich unter Genussbürgern nun im Geschmacklichen zu etablieren.
Schönheit, Wahrheit und Vergiftung
Kennerschaft, so gewinnt man oft den Eindruck, dient dem Connaisseur zur Unterscheidung des Weins ebenso wie zur Unterscheidung der Leute, die Wein trinken. Klasse misst sich am Verständnis für klassifiziertes Gewächs. So jedenfalls könnte man den gegenwärtigen Boom der Weinseminare, Weinmessen, Weinreisen, Weinblogs deuten. In den Buchhandlungen reiht sich die Weinliteratur auf den einschlägigen Regalen. Die Zahl der Fachzeitschriften wächst; ebenso jene der Websites über Wein und der Önotheken. Im Lifestyleteil der Zeitungen nimmt der Wein eine prominente Stellung ein. Inzwischen schenken auch die Philosophen dem Getränk ihre Aufmerksamkeit.
Autoren, die in der Philosophie des Geistes ihre Sporen abverdienten, widmen sich jetzt der Philosophie des geistigen Getränks. Dem griechischen Symposion nachempfundene Önosophieabende werden veranstaltet. Und auf dem Buchmarkt erscheinen so verheissungsvolle Titel wie „Ich trinke also bin ich“ (Roger Scruton), „Die Philosophie des Weins: Ein Fall von Schönheit, Wahrheit und Vergiftung“ (Cain Todd, englisch) oder auch einfach „Fragen des Geschmacks“ (Barry Smith, englisch). Die Philosophin Gloria Origgi plädiert darin gar für eine „Wein-Epistemologie“, also für eine Untersuchung dessen, was eigentlich die Kennerschaft auf diesem Gebiet ausmacht.
Relativismus des Gaumens
Gerade dieses letzte Thema erscheint mir durchaus eines tieferen Blicks ins Glas wert. Denn jeder Schluck Wein repräsentiert im Grunde ein vertracktes philosophisches Problem. Er ist eine gustatorische, olfaktorische, haptische und auch visuelle Gesamterfahrung, er mobilisiert mit Zunge, Gaumen, Nase, Tast- und Gesichtssinn jenen Teil unseres Sensoriums, der „nur“ mein subjektives Empfinden, meine Geschmackspräferenz ausdrückt.
Aber das ist lediglich die eine Hälfte der Weinerfahrung. Ein Weinkenner will selbstverständlich nicht einfach nur sagen: Der Tropfen gefällt oder missfällt mir. Du magst Chateau Lafite, ich mag Barbera del Monferrato, ein Dritter zieht einen Pinot Noir aus dem Nappa Valley vor. Damit hat es sein Bewenden. Über Geschmack lässt sich nicht streiten.
Hirn- und Gaumentransplantat
Diesen Relativismus des Gaumens straft die Weinwelt Lügen. Es wird sehr wohl gestritten, und zwar heftig und in der höchsten Expertenliga. Einen Sturm im Probierglas verursachten z.B. 2004 der amerikanische Hochleistungstester Robert Parker und die Herausgeberin des Oxford Companion of Wine, Jancis Robinson, als sie sich über die Qualität des 2003er Jahrgangs von Chateau Pavie aus Saint-Emilion uneinig waren.
Für Parker einer der besten Weine überhaupt aus dieser Region, für Robinson ein gebietsuntypischer „lächerlicher“ Tropfen. Parker warf Robinson vor, den Wein gar nicht degustiert zu haben. „Wer meint, dies sei ein guter Wein, braucht ein Hirn- und Gaumentransplantat“, legte sich ein anderer Grosskritiker, Michael Broadbent vom Auktionshaus Christie’s, für Robinson ins Zeug. Weitere Kritiker stürzten sich in die Querele. Vorwürfe der Ignoranz, Inkompetenz, Interessenverbandelung flogen mit gezielter und erlesener Perfidie hin und her.
Drei Dimensionen der Beurteilung
Der Konflikt enthüllt exemplarisch das zentrale Problem. Das Interesse des Experten ist auf das Objekt gerichtet. Er will sagen: Das ist ein guter oder weniger guter Tropfen; Wein von bestimmtem Charakter und von besonderer Qualität. Gewiss, der Wein hat materielle Eigenschaften, die man relativ objektiv untersuchen kann. Das ist Sache der Önologie, allgemein der Chemie. Aber gut oder schlecht ist der Wein nicht allein aufgrund dieser Eigenschaften, auch nicht nur, weil er mir gefällt oder missfällt, sondern aufgrund von etwas Drittem, der kollektiven Akzeptanz von Kriterien, zum Beispiel eines Benotungsystems. Die Güte eines Weins ist also ein mindestens dreidimensionales „Faktum“, das sich im Koordinatensystem von persönlichem Geschmack, materiellen Eigenschaften und sozialem Kontext einer Kennergemeinschaft verorten lässt.
Deshalb spiegelt das Urteil über den Wert eines Weins stillschweigend immer auch den Wert des Urteils. Das gilt generell für die Kennerschaft, in Literatur und Kunst, in den Wissenschaften, sogar den exakten. Und die Frage verweist auf eine tiefer liegende: Was ermächtigt einen Weinkenner wie Parker – den Experten allgemein - zu seiner herausragenden Stellung? Immanuel Kant versah solches Rückfragen mit dem Etikett „quid juris“, was heisst: Woher nimmst du das Recht, so zu urteilen? Geschmack, so Kant, ist eine erworbene Fähigkeit des Unterscheidens und Beurteilens. Und er bezeichnete sein philosophisches Unternehmen als „Kritik“, weil er damit gewissermassen einen für alle Menschen verbindlichen Appellationshof für Wissens- und Geschmacksansprüche zu errichten suchte.
Jeder ein Experte
An eine derartige universelle Instanz glauben heute die wenigsten Philosophen. Das macht indes die kritische Einschätzung von „Autoritäten“, in deren Namen Geschmacks- und Wissensansprüche erhoben werden, nicht weniger dringlich. Denn die Wissensgesellschaft wird immer „flacher“, das heisst die Grenze zwischen Amateur und Experte verwischt sich zusehends. Heute ist jeder eine Autorität, den wir dafür zu halten bereit sind. Und diese Bereitschaft ist gross. Die neuen Technologien des Wissens – Enzyklopädien wie Wikipedia oder Suchmaschinen wie Google – wiegen uns in einer Art von egalitärem Utopismus: Im Grunde kann jeder ein Experte auf jedem beliebigen Gebiet sein oder werden.
Wissen und Vertrauen sind ein intimes Paar. Aus diesem Grund wird immer wichtiger, was ich die moralische Dimension des Wissens nennen möchte. Das heisst, neben der Frage: Ist das wahr? verschafft sich die ebenso zentrale Frage Gehör: Ist das glaubwürdig? Ihre Bedeutung wächst mit der Dimension des Netzes, in dem sich mittlerweile, wie man hört, Information von der Grössenordnung Zettabyte (1021 Bytes) ansammelt. Eine unvorstellbare (und wachsende) Menge, die zu bewältigen – wenn überhaupt - nur noch mit leistungsfähigen Algorithmen möglich ist.
Information kann objektiviert, ausgelagert, gespeichert, verwaltet und insofern auch von einer Maschine verarbeitet werden. Aber Wissen, sagt man, ist nicht einfach Information, sondern Information mit Wert. Und dieser Wert misst sich an der Glaubwürdigkeit. Was wir über die Welt wissen, beruht im Grunde auf einem (sich im Laufe eines Lebens weitenden) Kreis der Familiarität mit Leuten, denen wir trauen. Das Urteil von jemandem, mit dem ich schon einmal diesen oder jenen Tropfen gemeinsam gekostet habe, sagt mir wahrscheinlich mehr als das Urteil eines ausgewiesenen Experten, den ich nicht kenne. Wissen braucht ein Mit-Subjekt, eine Person, die das Wissen mit mir teilt. Und dieses Teilen verkörpert den Ankerpunkt der Glaubwürdigkeit.
„Appellation d’Origine Contrôlée“
Bekanntlich werden unter den neuen medialen Bedingungen die Gewichte der Experten-Autorität sozusagen neu verteilt. Und die Verteilungskämpfe sind voll im Gang. Mir scheint in diesem Zusammenhang ein Blick in die Geschichte lehrreich, genauer auf das Motto der altehrwürdigen Royal Society - einer der ersten neuzeitlichen Forschungsinstitutionen – : Auf niemandes Worte schwören (Nullius in verba). Wenngleich man daraus eine deutliche Absage an das Zitieren von Autoritäten und ein Bekenntnis zum experimentell Bestätigten heraushört, muss im selben Zug daran erinnert werden, dass es im 17. Jahrhundert noch selbstverständlich war, die Qualität von experimentellen Resultaten an der Vertrauenswürdigkeit der Forscher zu messen. Der Anspruch auf wissenschaftliche Dignität basierte auf gegenseitiger Anerkennung und Wertschätzung. Das heisst, der Wissenschaftler war ein Gentleman, ein „Ehrenmann“ des Wissens.
Daran wäre anzuknüpfen. Warum nicht wie für das Wissen vom Wein für Wissen generell eine „Appellation d’Origine Contrôlée“ einführen. Von wem, woher stammt es? Wie wurde es produziert? Wer garantiert für seine Qualität? Unser Wissen beruht wesentlich auf dem Wissen, wem wir trauen können. Das heisst nicht zuletzt: auf dem Selbstvertrauen. Und so wird es zum dringlichen Erfordernis einer verflachenden Wissensgesellschaft, dass im Basar der Experten der einzelne Wissensbürger sich selbst als Urteilenden entdeckt. Analog zum Gespür für die Qualität eines Weines gilt es ein Gespür für die Qualität all dessen zu entwickeln, was uns als Wissen angeboten wird – im alten Sinne des Wortes „expertus“: Ich habe es selber erfahren, erprobt, geschmeckt. Anders gesagt: Jedes Expertentum zeichnet sich aus durch ein umfangreiches objektives Wissen, gesteigert durch eine fachlich raffinierte Subjektivität.
Wage zu schmecken
Womit wir glücklich die Kurve zum Weinkenner zurück gekriegt haben. Robert Parker schreibt, dass der individuelle Gaumen nicht zu ersetzen sei und keine bessere Weinschulung existiere als das eigene Prüfen des Weins. Wohlan denn. Wozu haben wir denn Zunge, Kopf, Körper? Das Motto der Aufklärung lautete „sapere aude“. Wage zu wissen. Eingedenk der Etymologie des Wortes „Wissen“, das ursprünglich auch „Schmecken“ bedeutet, müsste heute also eine schmeckende Urteilskraft das Motto „Wage zu schmecken“ in sein Recht setzen. Versuch es selber! Wissen genügt nicht. Man muss auf seinen Geschmack kommen. Aufklärung beginnt bei den Geschmacksknospen.