Was war, kulturell gesehen, für mich der originellste und stimmigste Abend des vergangenen Sommers? Da brauch ich für die Antwort nicht viel Ueberlegungszeit: frisch in Erinnerung bleiben mir jene anderthalb Stunden in einem kleinen Saal in einem Dorf irgendwo im tiefen Süden Frankreichs. Der Allzwecksaal wird sonst für Seniorentreffen benutzt, aber an diesem Abend bot er einer Theatertruppe aus der nahe gelegenen Stadt Narbonne Gastrecht. Rund dreissig Personen waren zugegen; darunter eine ältere Dame mit einem Kissen und einer Sonnenbrille, die sie auch im verdunkelten Zuschauerraum anbehielt, ein gut integrierter Transvestit auf halsbrecherischen Stöckelschuhen, mit Perücke und Netzstrümpfen, der sich grüssend und winkend durch eine Stuhlreihe kämpfte, dann der aus dem Norden zugewanderte Dorfschreiner, ein Mann der perfekten Manieren und, zusammen mit dem schmächtigen, ebenfalls aus dem Norden stammenden Ferienhausbesitzer und Lehrer, das Mass aller Dinge in Sachen Kultur.
Die Türe wird verschlossen, Hitze, stickige Luft sind spürbar, ein schüchternes Mädchen betritt die Bühne, kündet Stück und Schauspieler an, verhaspelt und entschuldigt sich dabei in jedem Satz und kommt endlich zum Glas Wein, das nach getaner Arbeit jeder und jedem ausgeschenkt würde. Es kann losgehen.
Ausgefuchste Interpreten
Die aufs einfachste möblierte enge Bühne zeigt das Innere eines jener Waschsalons, die man noch immer überall in Frankreich antreffen kann – lärmige Orte zufälliger Begegnungen, an denen einsame Herzen ihre wöchentliche Ration minimaler Kommunikation zu sich nehmen. Ein zeitgenössischer belgischer Autor, Jean-Marie Piemme mit Namen, hat sich den Waschsalon als Kulisse genommen und den Alltag, das Ritual die damit verbunden sind, in einem funkelnden, humorvollen und manchmal philosophischen Dialog verwandelt. Zwei ausgefuchste männliche Interpreten, Typus Volksschauspieler, spielen das Stück „Toréadors“ so intensiv und unterhaltsam, dass man harte Stühle, Hitze, die verschlossene Türe schnell vergisst und sich stattdessen konzentriert, um von dem in französischer Umgangssprache präparierten und präsentierten Redeschwall möglichst nichts zu verpassen.
Um dem Titel die Ehre zu erweisen, gebärden sich die beiden Schauspieler ein bisschen wie Stierkämpfer; mal fuchtelt der eine als Toreador mit dem verbalen Degen herum, während der andere, der Stier, darauf wartet, die Hörner auszufahren und überraschend einen Stich zu landen, dann verkehren sich die Positionen. Eine Momentaufnahme Frankreichs und seiner tiefen Provinz in diesen Zeiten. Verhandelt wird: das Immigrantenproblem, das Finanz-, Verschuldungs-, Bankenproblem, Job-Krise, Immobilien-Krise, Ehe-Krise, überhaupt jede Art von Krise. Das grosse Lamento in einer Mischung von geistreichen Aperçus und platten Kalauern. Mal wird gedacht, argumentiert und philosophiert, dann wieder nur reagiert, stumpf irgendeine politische Parole nachgeplappert.
Bis zur bösen Pointe
Dabei entfalten und festigen die beiden Schauspieler allmählich die Charaktere ihrer Figuren, die laufend plastischer, konkreter – und humaner werden. Der eine, Gerant des Salons, ein zum französischen Staatsbürger mutierter Nordafrikaner, ist ein mit Charme ausgestattetes Schlitzohr, ein grauenvoller Angeber und Besserwisser, der sich im Laufe der anderthalb Stunden immerhin vom hartgesottenen Egoisten zum jovialen Kumpel wandelt. Der andere, der bei ihm einfällt und um Asyl bittet, ist ein mittelloser, illegal in Frankreich lebender Russe, ein SDF (sans domicile fixe), also einer, der mit einem kleinen Rucksack auf der Strasse lebt. Unser Schlitzohr weist ihn zuerst weg, holt ihn dann zurück, lässt ihn verschnaufen. Der Russe erweist sich als schlagfertiger Debattierer, der es versteht, jede Logik und jede Scheinlogik in den Reden des Geranten ad absurdum zu führen, was den Nordafrikaner wütend macht und gleichzeitig reizt. Schliesslich bietet er dem unerwünschten Gast Kost und Logis an, stellt ihn für ein Trinkgeld an – und lädt ihn zum traditionellen Weihnachstessen ein. Das wird dann unterm Christbaum eingenommen. Es folgt, abrupt, die böse Schlusspointe. Der zum Freund gewordene Russe eröffnet dem Geranten verlegen, dass er ab sofort den Waschsalon führen werde, weil er bereit sei, die Arbeit zum halben Lohn zu verrichten – der liebe Freund aus dem Maghreb, sei leider abserviert. Vorhang.
Das Publikum applaudiert begeistert, die Dame mit der schwarzen Brille steht auf und wedelt mit dem Kissen, der Transvestit bläst Küsschen Richtung Bühne. Die Türe wird aufgeschlossen, das Glas Wein trinkt man draussen in seidiger Sommernacht unterm Sternenhimmel. Weit hinten im Raum sieht man die Lichter von Narbonne, dazwischen schimmert der étang silbrig, Lehrer und Schreiner versichern sich in wohlgesetzten Formulierungen der hohen Qualität, des Unterhaltungswerts, aber auch der philosophischen Tiefe des eben Geschauten, die andern begnügen sich mit „chouette“, „fantastique“, „merveilleux“, „tout à fait réussi“ und nicken eifrig. Ein denkwürdiger Abend.