Ende September wurde das renovierte Hotel Mamounia neu eröffnet. „Das schönste Hotel der Welt“, heisst es in der Eigenwerbung. Tatsächlich: Der Palast ist phantastisch. Franklin Roosevelt war hier, Churchill, Charles de Gaulle, die Rolling Stones, Nelson Mandela, Helmut Kohl und natürlich Hemingway (wo war er nicht?).
Die als Mann verkleidete Marlène Dietrich küsste hier eine Frau. Die Szene, die hier 1930 für den Film „Marokko“ gedreht wurde, brachte die amerikanischen Zensoren in Wallungen. Später, 1956 realisierte Alfred Hitchcock im Mamounia den Film „Der Mann der zu viel wusste“. Eine Suite kostet heute pro Nacht bis zu 5‘000 Schweizer Franken. Ein Drink in der Bar: 70 Euro.
Yves Saint-Laurent, Paloma Picasso, Angelina Jolie etc.
Auch heute verkehren im Mamounia Könige und Staatschefs, Filmstars und FIFA-Bosse. Zur Wiedereröffnung hat das Hotel Journalisten aus aller Welt eingeladen und beflirtet. Es lohnte sich: In vielen Jubelberichten und Hochglanzreportagen erstrahlte das Fünf-Stern-Haus in neuem Glanz. Die Werbeoffensive wurde von der Regierung unterstützt. Denn Marokko will seine schönste Stadt endgültig zum Mekka der High Society machen.
Hier hausten sie zwar schon lange, die Schönen und Reichen dieser Welt. Schon in den wilden Siebzigerjahren gab es hier alles: Wilde Partys, Sonne und Drogen. Yves Saint-Laurent lebte in der Villa Majorelle mit seinem Freund. Pierre Balmain hatte hier seine Residenz, das Riad Dar Moha, das jetzt ein Restaurant ist. Kein französischer Staatspräsident war nicht in Marrakesch. Auch Paloma Picasso wohnt immer wieder hier, und natürlich auch Angelina Jolie und Brad Pitt. Vor drei Wochen fand das internationale Filmfestival statt. Und sie kamen, die Catherine Deneuves, Eva Mendes und Volker Schlöndorffs – begrüsst von Mohammed VI, dem „König der Moderne“.
Marrakesch ist eine Milckkuh
Doch die ockerfarbene Stadt zog schon immer auch Künstler und Schriftsteller an. Während der französischen Kolonialzeit pilgerten all die Literaten in die märchenhafte Medina. 1954 besuchte auch Elias Canetti, der in Zürich lebte und dort begraben ist, die Stadt. Sein Büchlein „Die Stimmen von Marrakesch“ gehört zu den feinfühligsten und einfühlsamsten Beschreibungen der Stadt. Berühmt ist die Beschreibung der Kamele. „Sie erinnern an alte englische Damen, die würdevoll und scheinbar gelangweilt den Tee zusammen einnehmen, aber die Bosheit, mit der sie alles um sich betrachten nicht ganz verbergen können“. Und Canettis Freund sagt: „Das ist meine Tante, wirklich“.
Marokko weiss um den Wert Marrakeschs. Die Regierung pumpt Millionen in die Stadt, um sie touristisch weiter aufzuwerten. Erst kürzlich hat das Tourismus-Ministerium wieder 150 Millionen Dirham für den Ausbau der touristischen Infrastruktur zur Verfügung gestellt. Marrakesch ist eine Milchkuh. Die Stadt bringt einen Drittel aller touristischen Einnahmen des Königreichs.
"Waren sie schon in Marrakesch oder haben sie noch nicht gelebt?"
Doch trotz Mamounia, trotz der Reichen und Schönen, trotz der VIPs und jenen, die es sein möchten: Das meiste Geld kommt nicht von ihnen. 90 Prozent der Touristen sind europäische Mittelstands- und Low-cost-Touristen. Ihre Zahl ist innerhalb eines Jahres um 20 Prozent gestiegen. Begreiflich, denn Marrakesch ist phantastisch.
Und der Aufschwung soll weiter gehen. 13 Hotels wurden im vergangenen Jahr eröffnet. British Airways hat angekündigt, dass sie ab März drei Mal wöchentlich von London Gatwick aus nach Marrakesch fliegen wird. Marokko hofft, dass dies Ausdruck eines neuen Flugreise-Booms ist. Der Flughafen hätte viel Kapazität für weitere Landungen und Abflüge.
Marrakesch war vor allem in den Sechziger- und Siebzigerjahren ein Magnet für Hippies, Blumenkinder und junge Abenteurer. Doch nicht nur: Professoren und andere Intellektuelle fragten: „Waren sie schon in Marrakesch oder haben sie noch nicht gelebt?“ Hier gab es nicht nur Hasch und schöne (moslemische) Frauen. Hier gibt es Farben und bezaubernde Düfte, wunderbares Essen und eine berauschende maurische Kultur. Auch Schweizer, Deutsche, Italiener und Skandinavier kamen; sie kauften die halbe Altstadt auf. Hier in der Medina richteten sie Hotels ein. Einige hatten Erfolg und schufen wunderbare Riads: verwinkelte Hotels mitten im Strassengewirr - hinter hohen Mauern mit wunderbaren Terrassen. Viele scheiterten auch.
Hassan II, kein edler Mensch
Dann kam der Niedergang. Die politischen Verhältnisse vertrieben die Touristen. König Hassan II., der Vater des jetzigen Königs, war kein edler Mann: Schon 1996 kam es zu schweren Studenten- und Schülerprotesten. Hassan liess in die Menge feuern. Dann griff der König Algerien an, später besetzte er die spanische Sahara. Die Grundnahrungsmittel wurden immer unerschwinglicher. Proteste liess er niederschlagen; es gab Hunderte von Toten. 1991 wurde ein Generalstreik ausgerufen. Es gab Massendemonstrationen und viele Tote. Kein gutes Umfeld für einen blühenden Tourismus.
Hassan starb 1999 und sein Sohn entpuppte sich als Gegenteil des Vaters. Mohammed VI. reformiert das Land, macht es etwas freier, öffnet es gegen aussen. Er investiert in die Infrastruktur, baut Autobahnen und einen TGV. Die neuen schneeweissen Bahnhöfe von Marrakesch, Rabat und Fès sind Zeichen dieses Aufbruchs. Kaum ein König war je im Volk so beliebt wie er.
Auf der Homepage des Filmfestivals von Marrakesch sieht man den König, wie er die Filmstars begrüsst. Auf der gleichen Seite schreibt ein Blogger namens Mohammed einen Kommentar: „Es wäre sehr gut, wenn sich der Herr König auch einmal um die sozialen Belange seines Landes kümmern würde als nur um Prestige-Projekte. Die sozialen Verhältnisse in Marokko sind katastrophal!!”
40 Prozent leben unter der Armutsgrenze
Der Blog-Schreiber hat Recht: Fast die Hälfte der über 14jährigen Marokkaner sind Analphabeten. 40 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Doch der König hätschelt nicht nur die Mamounia-Gäste. Er kümmert sich tatsächlich um die sozialen Belange seiner verarmten Landsleute – einer Bevölkerung, die vor allem wegen der Politik seines Vaters in der Misere lebt. Er investiert in Kooperativen und holt ausländische Investoren ins Land. Er fördert Frauen und stärkt ihre Rechte. Immer mehr Kinder gehen zur Schule. Doch der Aufschwung ist zäh.
Soll Mohammed VI. nun nicht auch noch – parallel dazu – die Reichen und Schönen mit ihren Devisen ins Land holen? Diese Frage wird, je nach Ideologie, verschieden beantwortet.
Beim Tourismus versucht Marrakesch den Spagat: Auf der einen Seite einige wenige Celebritäten. Auf der andern Seite die anderthalb Millionen Touristen, die jährlich nach Marrakesch kommen. Ihre Zahl nimmt ständig zu. Vor allem Franzosen, Deutschen, Italienern und Briten gefällt die Stadt immer mehr. Neuerdings kommen auch Russen in Scharen.
Hauptattraktion bleibt der Platz „Jemaa el-Fna. Dort, wo einst Verbrecher hingerichtet und ihre Köpfe ausgestellt wurden, flanieren heute Zehntausende Touristen. Ab und zu tauchen auch Mamounia-VIPs mit ihren Bodyguards auf. Doch sie werden vom Menschengewirr verschluckt.
Affenbändiger und Schlangenbeschwörer
Der Jemaa el-Fna ist die faszinierendste Sehenswürdigkeit Marokkos. Hier gibt es Feuerfresser und Gaukler, Schlangenbeschwörer und Affenbändiger, Akrobaten und Musikanten, Bettler und Wunderdoktoren, Wahrsager und Tatoo-Ritzer, Esel und fliegende Essensstände mit duftendem Schaffleisch. Der Platz gehört heute zum UNESCO-Welterbe.
Die Marokkaner sind ruhiger geworden. Sie haben sich an die Touristen-Lawine gewöhnt. Sie sind diskreter als früher. Mit viel Stolz sitzen die Ladeninhaber zwischen ihren Waren. Ruhig und mit Würde betrachten sie die lauten Touristen, die teils halbnackt mit prallen Hotpants und Camembert-farbigen Beinen durch die Märkte ziehen. Trotzt der vielen, vielen Fremden hat Marrakesch noch immer einen Teil seines Zaubers behalten. So wie ihn Elias Canetti beschrieb. Noch immer reihen sich in den Souks viele Dutzend gleicher Läden mit derselben Ware aneinander. „Das geht vielleicht hundert Meter so“. Gleich geblieben ist auch die Preispolitik: „Es gibt viele Preise“, schreibt Canetti. „Jeder von ihnen bezieht sich auf eine andere Situation, einen andern Käufer, eine andere Tageszeit, einen andern Tag der Woche. … Es gibt Preise für Fremde, die nur einen Tag in der Stadt, und solche, für Fremde, die hier schon drei Wochen leben. Es gibt Preise für Arme und Preise für Reiche, wobei die für die Armen natürlich am höchsten sind“.
Allâhu Abkar"
Auch in den Souks liebt man Weihnachten. Denn dann kommt eine Flut von Touristen. Und sie kaufen, zwar nicht viel, aber immerhin einige Gewürze oder Seifen, einen Ledergurt oder farbige Babouche-Schuhe. Doch die meisten Fremden kommen jetzt nicht, um zu kaufen: sondern um Weihnachten zu feiern.
Die Hotels schmücken sich. Sogar Tannenbäume werden importiert. Moslems dekorieren sie mit Glanz und Glitzer, mit Engelchen, Silberfäden und Weihnachtskugeln. Krippen mit dem Jesus-Kindchen leuchten im Kerzenlicht. „Stille Nacht, heilige Nacht“, „Jingle Bells“, „Oh du fröhliche“. Unterbrochen wird die Feier nur vom Muezzin. Vom Minarett aus ruft er in die Weihnachtsnacht hinaus: „Allâhu Akbar, Aschhadu allâ ilâha illallâh“.