Die Muslimbruderschaft in Ägypten hat die Wahlen gewonnen. Dies bedeutet, dass sie zum ersten Mal in ihrer 84-jähringen Geschichte Regierungsverantwortung übernehmen wird. Dabei stellt sich heraus, dass es viel leichter ist, in der Opposition und in der Klandestinität Zusammenhalt und innere Disziplin zu bewahren als nun, da konkrete, weitreichende und Risiko belastete politische Entscheidungen gefällt werden müssen.
Welchen Weg einschlagen?
Schon im Vorfeld der Machtübernahme, wo noch die Militärjunta (SCAF) herrscht, stehen Entscheidungen für die gewählte Mehrheitspartei an, die für die Zukunft Ägyptens und die seiner Mehrheitspartei grundlegend sein werden. Die Bruderschaft war bisher legendär für ihre innere Disziplin und Zielsicherheit. Doch nun ergeben sich innere Diskussionen darüber, wie sie vorgehen soll, und die Beschlussfassung ist offensichtlich schwierig geworden.
Mit SCAF oder mit allen Partien der Demokratie?
Die zu lösenden Fragen sind zugegebener Massen ebenso komplex wie schicksalsschwer. Es geht einerseits darum, das künftige Verhältnis zu den gegenwärtig noch herrschenden Militärs zu bestimmen und andrerseits um die Rolle, welche die Mehrheitspartei bei der Ausarbeitung der neuen Verfassung Ägyptens zu spielen hat.
Welchen Kandidaten die Mehrheitspartei für die bevorstehende Präsidentenwahl aufstellt, wird den Kurs bestimmen, den sie gegenüber der Militärführung einnimmt und jenen der Militärführung gegen sie. Wie stark die Mehrheitspartei ihr parlamentarisches Übergewicht bei der Zusammensetzung der 100 köpfigen Verfassungskommission zur Auswirkung bringt, wird ihr künftiges Verhältnis zu den nicht religiösen Parteien Ägyptens bestimmen.
Ein eigener Präsidentschaftskandidat?
In der Frage des Präsidentschaftskandidaten ringt die Partei der Muslimbrüder, Freiheit und Demokratie, noch immer mit sich selbst. Sie muss sich jedoch vor dem festgesetzten Termin des 8. Aprils entscheiden. Nachher können keine Kandidaturen mehr aufgestellt werden.
Kontakte mit der Militärführung in dieser Frage haben stattgefunden. Doch bisher konnte kein Kandidat gefunden werden, der beiden Seiten passen würde. Beide Seiten lassen unter diesen Umständen immer wieder Versuchsballons fliegen, um zu sehen, wie die Gegenseite und wie auch das ägyptische Wahlpublikum auf sie reagiert.
Zurück zu "Vizepräsident", General Omar Soleiman?
Diese Versuchsballons zeigen, wie weit die Vorstellungen der Muslimbrüder und jene der Miltärführung voneinander entfernt sind. SCAF, die Militärführer, haben angedeutet, ihnen wäre Omar Soleiman nicht unlieb. Soleiman seinerseits sagt, er denke daran, sich um die Präsidentschaft zu bewerben.
Doch Soleiman ist für die Bruderschaft nichts weniger als ein rotes Tuch. War er doch während langen Jahren der Chef für militärische Sicherheit Mubaraks gewesen und als solcher damit beauftragt, mögliche Putschgelüste in der Armee durch genaue Kontrollen im Keim zu ersticken und zugleich die loyalen Armeeoffiziere bei guter Laune zu halten, indem er ihnen erlaubte, sich persönlich und ihre Institution, - die der Streitkräfte - hemmungslos zu bereichern. Kurz vor seinem erzwungenen Rücktritt hatte Mubarak Soleiman zu seinem Stellvertretenden Präsidenten ernannt. Doch er war dann unter dem Druck der Revolution wieder abgesetzt worden.
Ein Mann der Armee
Es ist leicht zu verstehen, warum die Militärführung den Geheimdienstgeneral ausser Dienst, Omar Soleiman, gerne als Präsidenten sähe. Er wäre eine Garantie dafür, dass ihre Vergangenheit nicht unter die Lupe von Untersuchungen über mögliche Korruption genommen würde, und wohl auch dafür, dass sie weiterhin, wie schon unter Mubarak, als Belohnung für ihre Loyalität gegenüber dem Präsidenten, alle erdenkbaren Privilegien bewahren und weiter ausbauen könnten.
Doch in den Augen der ägyptischen Bevölkerung wäre ein Präsident Soleiman nicht weniger als die Besiegelung des Scheiterns der Revolution, und auch die jüngeren Mitglieder der Bruderschaft, die aktiv an der Revolution beteiligt gewesen waren, würden sich verraten fühlen.
Die älteren Parteiführer müssten ihrerseits fürchten, über kurz oder lang in die Gefängnisse oder in die halbe Legalität zurückgedrängt zu werden, wie das ihr Geschick zu Zeiten Mubaraks war.
Nun doch ein Muslimbruder?
Der Gegen-Versuchsballon der Muslim Brüder heisst Khairat ash-Shatir. Er ist ein reicher Geschäftsmann und führender Muslimbruder. Die Militärgerichte hatten ihn zur Mubarak Zeit zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt. Er war angeklagt, er habe versucht oder geplant, Studenten militärisch auszubilden. Er sass im Gefängnis als die Revolution ausbrach und ist durch sie vorzeitig frei gekommen.
Während der Revolution und in den Monaten nach ihr hatte die Bruderschaft immer wieder erklärt, sie werde keines ihrer Mitglieder für die Präsidentschaft antreten lassen. Sie hatte sogar Abdul Moneim Abdel Futuh, einen ihrer wichtigsten Führer, aus der Bruderschaft ausgestossen, weil er erklärte, er wolle kandidieren.
Abdel Futuh ist nun in der Tat einer der 900 Ägypter, die versuchen wollen, die Papierbarriere zu überwinden, die zu durchbrechen hat, wer sich für die Präsidentenwahl stellen will. Jeder Kandidat braucht entweder 30 000 beglaubigte Unterschriften von ägyptischen Bürgern oder die Ernennung durch 30 Parlamentsabgeordnete, um an der Wahl teilzunehmen. Abdel Futuh gilt als einer der Aussichtsreichen unter den vielen potentiellen Bewerbern.
Ein Machthaber aus der Bruderschaft?
Doch die Bruderschaft erklärt nun, "im Interesse des Landes" könnte sie auf ihren früheren Beschluss zurückkommen und doch einen eigenen Kandidaten aufstellen. Dieser, so lässt sie erkennen, könnte der erwähnte Khairat ash-Shatir sein. Falls sie ihn wirklich zu ihrem Kandidaten erhöbe, wäre dies jedoch die Besiegelung ihres Bruchs mit SCAF. Soweit ist es noch nicht gekommen.
Doch bittere Erklärungen von beiden Seiten wurden laut, die zeigen, dass eine Konfrontation in der Luft liegt. Einige Brüder haben zum Beispiel die Militärführung öffentlich verdächtigt, sie gehe darauf aus, die Präsidentenwahlen zu fälschen. Dies sei der Grund dafür, dass sie sich weigere, die gegenwärtige, von ihr ernannte und ihr hörige Regierung abzusetzen, obwohl das Parlament dies verlange. Diese Regierung, meinten sie, sei als das Instrument der behaupteten Wahlfälschung vorgesehen.
Eine delikate historische Anspielung
Die Militärführung dementierte darauf hin empört alle Absichten, auf die Wahlen Einfluss zu nehmen, und sie fügte hinzu, Ägypten müsse vermeiden,"seine Geschichte zu wiederholen". Die politischen Kommentatoren lesen diese - an sich recht unbestimmte - Andeutung als eine Anspielung auf die Jahre 1952 bis 1954, als Abdel Nasser und seine Mitoffiziere einen ersten Militärputsch durchführten und anfänglich versprachen, ein demokratisches Regime einzuführen. Doch dann zwei Jahre darauf in einem zweiten Putsch die Macht absolut übernahmen und die damals wie heute wichtigste demokratische Partei, die Muslimbrüder, zusammen mit den ägyptischen Kommunisten, in Konzentrationslager steckten.
Trotz solch bitterer Andeutungen vermeiden beide Seiten bis heute, einander offen als Gegner zu bezeichnen. Ihre Sprecher erklärten, es handle sich nur um Meinungsverschiedenheiten, wie sie überall vorkämen.
Wer wird die Verfassung schreiben?
Die zweite Kampfesfront, die von den Muslimbrüdern Stellungnahme fordert, ist jene der Verfassungskommission. Sie soll aus 100 Mitgliedern bestehen, und im Parlament, wo die Muslimbrüder zusammen mit den Salafisten eine absolute Mehrheit besitzen, wurde in Zusammenarbeit der beiden "muslimischen" Parteien beschlossen, 50 dieser Mitglieder sollten aus dem Parlament und dem Oberhaus hervorgehen und 50 weitere aus Repräsentanten der Zivilgesellschaft, wie juristischen und Finanz- Fachleuten, religiösen Autoritäten, Vertretern der Berufsverbände usw.
Die Parlamentarier wurden ausgewählt im Verhältnis zur Grösse ihrer Parteien im Parlament. Vertreter der Zivilgesellschaft wurden jedoch in vielen Fällen den Muslim Brüdern oder den Salafisten nahe stehende Persönlichkeiten.
Übergewicht der Brüder in der Verfassungskommission
Die Muslimbrüder verfügen über eine reiche Palette von solchen, weil sie es sich in der Vergangenheit unter den Bedingungen der halben Legalität zur Aufgabe gemacht hatten, Berufsverbände und andere Gruppierungen der Zivilgesellschaft mit ihren Kandidaten zu durchdringen, die nicht immer offizielle Mitglieder der Bruderschaft waren, ihr jedoch nahe standen.
Solche Personen und Persönlichkeiten wurden unter dem Einfluss der parlamentarischen Mehrheitsstimmen in erster Linie gewählt, so dass das Endresultat der Ernennung der 100 Kommissionsmitglieder nach der Rechnung der säkularen Parteien darauf hinauslief, dass die 100 Mitglieder aus rund 70 bestanden, die entweder zu den beiden "muslimischen" Parteien gehörten oder zu deren Sympathisanten und Gesinnungsgenossen. Nur etwa 30 seien für den gesamten Rest der Gesellschaft übrig geblieben.
Protestrücktritte der Säkularisten
Als dies klar wurde, erhob sich ein Sturm des Protestes von Seiten der säkularen Hälfte der ägyptischen Gesellschaft. Die meisten der säkularen Parteien - so die Liberalen, der Wafd, die Sozialisten, die Nasseristen, die Gruppen links von den Sozialisten - forderten ihre Vertreter auf, aus der Kommission zurückzutreten. Sogar einer der beiden angesehenen Vertreter der berühmten al-Azhar Moschee trat zurück, und die 6 Kopten, die als Vertreter ihrer Gemeinschaft gewählt worden waren, erklärten auch, sie erwögen ihren Rücktritt.
Alle waren der Ansicht, ihre Gruppierung sei "untervertreten". Alle äusserten den Verdacht, die Muslimbrüder und die Salafisten wollten die neue Verfassung gemeinsam "diktieren". Alle erklärten, die Muslim Brüder handelten so wie die Staatspartei Mubaraks in der Vergangenheit.
Die Kritiker erwähnten freilich den entscheidenden Unterschied nicht: Salafisten und Brüder wurden in echten Wahlen gewählt. Die Vertreter der Staatspartei Mubaraks waren aus gelenkten Wahlen hervorgegangen.
Eine Gegenverfassung?
Die Vertreter der Sozialisten schlugen vor, die Zurückgetretenen sollten zusammen mit Gesinnungsgenossen eine Gegenversammlung bilden, die ihre eigene Schattenverfassung schreibe. Das Nilland erhielte dann zwei Verfassungen eine der Islamisten und eine der Säkularisten. Was vermutlich auch ein Versuchsballon bleiben wird, jedoch illustriert, wie sehr der Graben zwischen "islamisch" und "säkular" die ägyptischen Politiker trennt und sie mehr als alle anderen Fragen gegenseitig zu konfrontieren droht.
Nun doch Zusammenarbeit mit den Salafisten?
Theoretisch hatten die Muslimbrüder nach den Wahlen erklärt, sie suchten die Zusammenarbeit mit säkularen Parteien, nicht mit ihren "salafistischen" Glaubensgenossen und politischen Rivalen. Doch in der Praxis ergab sich, zunächst in der Frage der Zusammensetzung der Verfassungskommission, dann eben doch eine Zusammenarbeit der beiden "islamischen" Gruppen gegen den "Rest der Gesellschaft".
Neben den 100 Kommissionsmitgliedern wurden auch von vorneherein 40 Ersatzmitglieder bestimmt, die an die Stelle von ausscheidenden Verfassungsvätern zu treten hätten. Daher besteht die Möglichkeit für die Salafisten und Muslimbrüder, die durch die Rücktritte entstandenen Lücken sofort zu füllen. Dies würde jedoch zu einer noch weiter greifenden Einseitigkeit der Verfassungskommission führen.
Gerichtliche Schritte
Gegen eine solche Einseitigkeit hat der Vorsitzende der ägyptischen Menschenrechtskommission bereits gerichtliche Klage vor dem ägyptischen Verwaltungsgericht eingereicht. Sein Argument lautet, an der Formulierung einer für alle gültigen Verfassung müssten alle Teile der Gesellschaft beteiligt sein. Die Salafisten und Brüder können ihrerseits darauf hinweisen, dass ihr Vorgehen unter Ausnützung ihrer parlamentarischen Mehrheit völlig legal und offen gewesen sei.
Das Gericht will in der kommenden Woche den Fall beurteilen. Doch dies schliesst nicht aus, dass es sich nach einer ersten Sitzung ohne Beschlussfassung weiter vertragt.
Die Zeit drängt
Die vorgesehene Zeit für eine Formulierung der Verfassung, bloss sechs Monate, ist äusserst knapp. Das Ringen um die Zusammensetzung der Kommission dürfte sie weiter verkürzen. Der Präsident soll im Mai und Juni gewählt werden, lange bevor die sechs Monatsperiode abläuft, und die ohnehin wahrscheinliche Entwicklung, dass ein Präsident gewählt werden wird, bevor seine verfassungsmässigen Vollmachten und Amtsperioden bekannt sein werden, wird durch den gegenwärtigen Streit noch verstärkt.
Versagen des Parlamentes begünstigt die Militärs
Die Gefahr einer weiteren Machtübernahme durch die Militärs, sei dies durch einen Putsch von weiter unten oder durch eine simple Erklärung der gegenwärtigen Militärspitzen, dass sie sich "gezwungen sähen" ihre Macht zu verlängern, wächst in dem Masse, in dem Uneinigkeit unter den Parlamentariern über demokratische Grundfragen sich ausbreitet.
Die Versuchung für die Militärs, selbst die Macht zu übernehmen oder ihre bestehende Macht zu verlängern, nimmt zu, wenn sie sehen oder zu sehen glauben, dass die Parlamentarier ihre Aufgaben nicht bewältigen könnten.
Vor einem Putsch schauen die Offiziere stets auch auf die zu erwartende Zustimmung oder Ablehnung der Bevölkerung. Diese wird ihnen eher zuneigen, wenn das Parlament sich selbst diskreditiert.
Wie schützen wir uns vor den Militärs?
Die Muslimbrüder wären die ersten Verlierer, wenn es je zu einem militärischen Eingriff käme. Doch ihre Meinung darüber, wie dies zu vermeiden wäre, ist offensichtlich gespalten. Die ältere Führung neigt dazu, eher einen Kompromiss mit den Militärs zu finden, und sich dadurch den Raum zu verschaffen, eine nach ihrem Ermessen "islamisch" gehaltene Verfassung zu schreiben. Dies dürfte auch den Vorstellungen der Salafisten entsprechen.
Die jüngere Generation der Brüder jedoch möchte am Ideal einer echten Demokratie festhalten, einen Präsidenten wählen, der diese verteidigte und die Mitarbeit der säkularen Parteien im Rahmen einer ausgeglicheneren Verfassungskommission sicherstellen. Auch wenn dies zu einer weniger "islamischen" (das heisst im Wesentlichen an die Schari’a gebundene) Verfassung führen sollte. Die letzten Meldungen, die davon sprechen, dass die Bruderschaft sich bereit erkläre, zehn ihrer eigenen Kommissionsmitglieder zurückzuziehen, um diese Posten den säkularen Parteien zu übergeben, lassen hoffen, dass die Sicht der Jüngeren sich durchsetzen könnte.