Seit drei Wochen melden sich in den USA Demonstranten gegen die Herrschaft der Finanzjongleure zu Wort. „Occupy Wall Street“ lautet ihre Parole. In New York hat es angefangen, inzwischen sollen aber Kundgebungen regelmässig in sechs Städten der USA stattfinden. Vor einer Woche schon trat Michael Moore auf den Plan und verkündete, es werde noch Grosses geschehen. Und jetzt hat sich George Soros, der einst das britische Pfund in Grund und Boden spekulierte und sich später als Förderer demokratischer Bewegungen in Osteuropa profiliert hat, als Sympathisant dieser Protestbewegung zu erkennen gegeben.
Ist „Occupy Wall Street“ eine neue populistische Bewegung? Manche Beobachter sehen Parallelen zur rechten "Tea Party". Sarah Palin und Michele Bachmann als ihre Leitfiguren bilden zwar zu Michael Moore und George Soros den denkbar grössten Kontrast. Aber der innere Impuls dieser Bewegungen kommt aus der Wut auf die Eliten: Bei der "Tea Party" sind es jene Politiker, die in Ostküstenmanier das politische Leben Washingtons bestimmen, bei „Occupy Wall Street“ sind es die Finanzhaie.
Abgrenzung gegen alles Fremde
Was ist aber „populistisch“ an den so genannten populistischen Bewegungen? Die Soziologin Karin Priester, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, hat vor kurzem in der „Sozialen Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis“ (1) einen Überblick über die derzeit gängigen Zuordnungen und Theorien gegeben: Den ersten Versuch, den Populismus wissenschaftlich zu verstehen, hat der amerikanische Soziologe Edward A. Shils unternommen (2). Er sah im Populismus die Betonung des Volkswillens und die direkte Verbindung zwischen Volk und Führung.
In der Folge wurde versucht, den Kern des Populismus immer genauer herauszuarbeiten. Aber weil es in verschiedenen Ländern und verschiedenen Zeiten ganz unterschiedliche Erscheinungsformen gibt, zerbröseln viele Definitionsversuche in der Vielfalt. Trotzdem gibt es typische Merkmale. Eines der wichtigsten ist die Ablehnung des „Establishments“. Das Establishment ist korrupt und verknöchert. Dringend werden Plebiszite gebraucht, um diese Strukturen aufzubrechen.
Ein weiteres Merkmal ist die von Ghita Ionescu und Ernest Gellner 1969 in einem Sammelband (3) als „heartland“ bezeichnete Utopie einer „idealen Welt“. Weniger wissenschaftlich würde man davon sprechen, dass den Populisten die Heimat oder das, was sie dafür halten, über alles geht. Das leuchtet unmittelbar ein; man denke nur an die SVP. Die populistische Rhetorik bezieht ihre Kraft aus dem Heimatgefühl. Dieses Gefühl erlaubt verlässlich die Abgrenzung gegen alles Fremde.
Das "leere Herz"
Auf den ersten Blick ist es verwirrend, dass Ghita Ionescu und Ernest Gellner in einem weiteren Schritt davon sprechen, dass der Populismus keine zentralen Werte, core values, habe. Sie attestieren ihm ein „leeres Herz“. Warum ist das Herz leer, wenn es doch von der Heimat erfüllt ist? Gerade deshalb. Denn Werte gelten für alle Menschen, nicht nur für die eigene Gruppe. Das erfordert der Wert der Gerechtigkeit. Wer nur seine Heimat, nicht aber die Verpflichtung universeller Werte kennt, lebt bequem. Er kann, und auch das kennen wir aus der Schweiz nur zu genau, jene an den Pranger stellen, die im Namen der Werte auf Verpflichtungen hinweisen, die über die blosse Heimatverbundenheit hinausgehen.
Die Heimatverbundenheit hatte 1967 der Philosoph Isaiah Berlin auf der internationalen Konferenz „To define populism“ in London mit der Berufung auf die „organische Gemeinschaft“ in Verbindung gebracht. Dieser Begriff hat eine interessante Geschichte, denn das „Organische“ ist im 19. Jahrhundert in Deutschland gegen das „Künstliche“ oder bloss „Zivilisatorische“ Frankreichs, Englands und natürlich Amerikas ausgespielt worden. Das Standardwerk dafür stammt von Ferdinand Tönnies: „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (1887).
Man wollte - und will noch heute - zurück zu einfacheren und besser überschaubaren Lebensverhältnissen; gerade in der Politik. Am besten wäre es demnach, wenn alle politischen Entscheidungen und natürlich auch die damit verbunden gesetzlichen und administrativen Vorgänge so einfach wären, dass jeder sie unmittelbar nachvollziehen kann. Das ist die Sehnsucht der Populisten – international.
Die Sehnsucht des Papstes
In ihrem Forschungsbericht fragt Karin Priester, ob die Definitionen den Kern populistischer Bewegungen wirklich treffen. Das ist nicht immer der Fall. Dennoch lässt sich einigermassen klar sagen, was mit populistischen Bewegungen gemeint ist. Über Details mögen sich die Forscherinnen und Forscher weiter streiten. Allerdings sollten sie darauf achten, dass sie nicht mit dem Rücken zum Problem stehen. Denn was geschieht, wenn man sich umdreht, und die Definitionen auf das anwendet, was sozusagen offizielle Politik und Kultur ist?
Dann zeigt sich zum Beispiel, dass die Sehnsucht nach den einfachen, überschaubaren, organischen und fraglos verbindlichen Lebensgemeinschaften mit ihren Werten nicht allein Sache der populistischen Bewegungen ist. Schliesslich gibt es den Papst und die katholische Kirche. Was beschwört denn der Papst ständig in seinen Reden, wenn nicht die auf die Urkirche oder besser noch auf den Jüngerkreis zurück gehende „Gemeinschaft der Gläubigen“? Die hat nichts Besseres zu tun, als sich mit aller Kraft gegen die „Ungeist der Moderne“ zu stemmen.
Daneben gibt es – insbesondere in Amerika – fundamentalistische Sekten ohne Zahl. George W. Bush hat seine Ranch in Crawford, Texas – im „Bible Belt“. Er wurde nicht – wie noch sein Vater – durch die Intellektualität der Ostküste geprägt, sondern durch den Charme einfacher Überzeugungen „auf den rechten Weg“ gebracht.
Linker Populismus
Und was das „leere Herz“, also den Mangel an werthaltigen Überzeugungen angeht, so ist das leider keine ausschliessliche Eigenschaft der Populisten. Der Ökonom Milton Friedman hat auf die Frage, worin denn die Ethik wirtschaftlichen Handelns bestehe, den immer wieder zitierten Satz gesagt: „The business of business is business.“. Das ist noch autistischer als jeder provinzielle Stammtisch. Aber dieser flotte Spruch, diese furchtbare Vereinfachung, hat die Politik demokratischer Länder wie die des an sich traditionsreichen Grossbritanniens über mindestens zwei Jahrzehnte ruiniert und vergiftet.
Populismus ist nicht allein Sache der Konservativen oder Rechten. Denn man muss heute leider sagen, dass es ein populistischer Schwung war, der Barack Obama mit seinem Spruch, „Yes, we can“, ins Weisse Haus gebracht hat. Endlich kommt einer, der es dem Establishment zeigt! Ein Kommentator schrieb damals, Obama habe allein schon dadurch die Welt verändert, dass er gewählt worden sei.
PR statt Substanz
Diese Arten des kulturellen und politischen Mainstream-Populismus liessen sich noch als bedauerliche, aber noch irgendwie verkraftbare Unfälle hinnehmen, wenn es nicht einen lang anhaltenden Trend der De-Alphabetisierung der Politik gäbe. Was sich nicht in kürzesten Sätzen im Fernsehen sagen oder twittern lässt, geht unter. Es wäre absurd, wenn die medial repräsentierte Mainstream-Politik gegenüber den Populisten ins Feld führte, dass sie wesentlich differenzierter argumentiere.
Was unterscheidet Nikolas Sarkozy, der die rebellierenden Jugendlichen der Banlieues mit dem Kärcher vertreiben wollte, von Marine Le Pen? Auch das mag als Ausrutscher durchgehen. Aber in dem Masse, wie sich die Politik als erfolgreiche PR begreift, verliert sie die Substanz, die allein ein wirksames Mittel gegen populistische Tendenzen wäre.
Populismus und Demagogie
Das Dramatische in unserer Zeit liegt darin, dass sich die populistischen Bewegungen mit ihren Parolen nicht mehr scharf von dem trennen lassen, was auch von der offiziellen Politik unters Volk gebracht wird. Irgendwie sind alle koalitionsfähig. Und schlimmer noch: Es gibt auch ein populistisches Handeln. Das ist still, fast schon selbstverständlich - der Einsatz von Drohnen gegen jegliche Art von "Terroristen" zum Beispiel.
Wer den lautstarken Populismus meint, denkt an Demagogie. Im Populismus steckt das lateinische Wort Volk, in Demagogie steckt wiederum der griechische Begriff Volk, das verführt wird. Beide Male geht es also um das Volk. Die Demokratie ist die Herrschaft des Volkes. Aber seit der griechischen Antike ist bekannt, dass diese Herrschaft des Volkes in der Praxis mehr Fragen aufwirft, als es Antworten gibt. Der Populismus interessiert sich nicht für Fragen. Er will Antworten ohne Wenn und Aber. Ein nicht-populistischer, aber populärer Widerstand stellt Fragen und provoziert: Occupy Wall Street! Hoffen wir, dass die Pointe nicht populistisch vermasselt wird.
(1) Karin Priester, Definitionen und Typologien des Populismus, in: Soziale Welt. Zeitschrift für sozialwissenschaftliche Forschung und Praxis, Heft 2, 2011, Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden
(2) Edward A. Shils, The Torment of Secrecy, London 1956
(3) Ghita Ionescu, Ernst Gellner, Populism: Its Meanings and National Characteristics, London 1969