In der ersten Aprilwoche, während die Kämpfe in der Ostghouta noch tobten, aber die ersten Evakuationen von Widerstandskämpfern bereits begonnen hatten, dekretierte Baschar al-Asad das Gesetz Nummer 10. Dieses betrifft den Grund- und Wohnbesitz der aus ihren Wohnsitzen geflohenen oder vertriebenen Syrern.
Die Bestimmung legt fest, dass alle Grund-und Hausbesitzer ihren Besitz den lokalen Behörden neu bestätigen müssen. Dies habe unter Vorlage der entsprechenden Dokumente entweder durch die Besitzer persönlich oder ihre Verwandten innerhalb von 30 Tagen zu geschehen. Eine besondere Kommission wird ernannt, um die geforderten Massnahmen zu beaufsichtigen. Nach Ablauf der 30 Tage soll der nicht bestätigte Besitz dem Staat zufallen.
Betrifft 13 Millionen
Rund die Hälfte aller Syrer, gegen 13 Millionen, sahen sich gezwungen ihre Wohnsitze zu verlassen und befinden sich im Ausland oder in Lagern nahe der Nord- und Südgrenzen Syriens sowie in irgendwelchen Notunterkünften in den grösseren Städten und an anderen Orten, wo sie sich sicherer fühlen konnten.
Viele dieser „Abwesenden“ sind geflohen, weil sie die Gewalt der Regierung zu fürchten hatten. Die 30-Tage-Frist wird unter diesen Umständen eine „natürliche Selektion“ bewirken. Syrer, die das Regime nicht zu fürchten haben, werden eine Chance erhalten, ihren Grundbesitz zu registrieren und damit zu behalten. Syrer, die Ursache haben, das Regime zu fürchten oder auch schlicht nicht über die Mittel verfügen an ihre früheren Wohnorte zurückzukehren, sehen der Enteignung entgegen.
Syrer im Alter der militärischen Dienstpflicht (Männer von 18 bis 48 Jahren mit gewissen Ausnahmen) wissen, dass sie sofort zum obligatorischen Militärdienst eingezogen werden, falls sie diesen noch nicht geleistet haben und die Regierung ihrer habhaft wird.
Loyale und unloyale Syrer
Ziel des Gesetzes Nummer 10 ist der Abbau irregulärer Massenansiedlungen. So die offizielle Begründung. Das Gesetz solle die Lage im Land normalisieren.
Doch sein wahrer Zweck ist offensichtlich, „loyale“ Syrer anzusiedeln und die „unloyalen“ zu enteignen. In vielen Fällen dürfte die Grenze zwischen „loyalen“ und „unloyalen“ Menschen mit der Religionszugehörigkeit zusammenfallen. Sunniten laufen Gefahr, massenweise enteignet zu werden. Anderseits dürften Alawiten, 12er- und 7er-Schiiten sowie Teile der christlichen Minderheiten, die während des sechsjährigen Bürgerkriegs aufseiten Asads standen, in die Lage kommen, von der Neuverteilung des Grundbesitzes zu profitieren. Denkbar ist auch, dass Nicht-Syrer, aber Angehörige der schiitischen Gruppen aus Iran, Libanon, Irak und sogar Afghanistan, die in Syrien auf Seiten Asads kämpfen, ebenfalls profitieren könnten.
Politische Säuberung
Die enge Ähnlichkeit des Gesetzes Nummer 10 mit dem „Absentee Property“-Gesetz Israels von 1948, aufgrund dessen der Land- und Hausbesitz der „geflohenen“ oder „vertriebenen“ Palästinenser in jüdischen Besitz überging, ist offensichtlich und von den syrischen Beobachtern bereits angesprochen worden.
Das Gesetz sagt viel aus über die politischen Ziele Asads und seiner Anhänger für den Fall, dass sie, wie es gegenwärtig aussieht, den Krieg militärisch gewinnen sollten. Nämlich eine Art „politischer Säuberung“, die Durchführung einer mehr oder weniger weitgehenden und mehr oder weniger konsequent gehandhabten Umsiedlung der Syrer zur „Belohnung“ der Loyalisten und zur „Bestrafung“ der „Rebellen“.