Ähnlich ist es mit Indien. Zwar hat das indische Cricket-Team gegen England eine schwere Niederlage erlitten. Doch es fällt reichlich Monsunregen und damit ist eine gute Ernte angesagt; das wirtschaftliche Wachstum liegt immer noch bei über acht Prozent, und von Finanzkrise ist keine Spur zu sehen; entlang der Grenzen ist es ruhig, und auch im Innern sieht es so aus, als sei die Opposition noch zerstrittener als die Regierung – die Garantie für politische Stabilität.
Doch es ist ein Land im Aufruhr, in dem ich gelandet bin. Seit zwei Wochen ist die Regierung des zweitgrössten Landes der Welt handlungsunfähig, gelähmt vom Spektakel eines alten Manns, der in einem Cricket-Stadion der Hauptstadt im Hungerstreik sitzt.
Anna Hazare kommt aus dem Hinterland von Maharashtra, ein pensionierter Lastwagenfahrer der Armee, einfach wie der Mahatma, aber auch eigensinnig und hemdsärmlig wie es nur ein Bauer sein kann. Mit diesem Mix von Sturheit und Bescheidenheit will er den mächtigen indischen Staat zwingen, über den eigenen Schatten zu springen und sich eine Anti-Korruptionsbehörde mit drakonischen Vollmachten zu verschreiben.
Hungerstreik
Die Regierung versuchte zunächst in bewährter Manier, den alten Mann auszuspielen. Sie pochte auf ihrem exklusiven Verfassungsauftrag, Gesetze vor das Parlament zu bringen und unterbreitete einen eigenen, relativ harmlosen Gegenentwurf. Er ging Hazare nicht weit genug, und er rief den Hungerstreik aus. Worauf die Regierung ihm den zusätzlichen Dienst erwies, ihn zu verhaften.
Statt im Freien begann Hazare seinen Streik also im Gefängnis. Und als der Innenminister ihn in panischer Eile wieder vor die Tür setzen wollte, weigerte sich Hazare, den Knast zu verlasssen. Schliesslich musste ihm die Regierung das Ramlila-Stadion einrichten, damit er dort mit Hungerfasten weiter am Strick gegen diese drehen konnte.
Der Hungerstreik war das Signal für einen Aufruhr, wie ihn Indien seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen hat. Im ganzen Land kam es zu Protesten und Demonstrationen, die Nachrichtenkanäle unterhalten seit bald zwei Wochen rund um die Uhr eine Direktschaltung ins Cricket-Stadion. Dieses verwandelte sich in einen Pilgerort für Bollywood-Stars und Nobelärzte, für reuige Politiker und unzählige Gruppierungen, die ihr Fähnchen an Hazares Trikolore hefteten. Viele Bauern sind nach Delhi gereist, die meisten von ihnen mit dem weissen Bauernkäppchen aus Hazares engerer Heimat auf dem Kopf. Es war ein Symbol des Freiheitskämpfs gewesen, und es soll nun ein solches für eine zweite Unabhängigkeitsbewegung werden.
"Mein Volksvertreter ist ein Dieb"
Wovon möchten sich die Millionen von Sympathisanten befreien? Wenn es nach ihnen – und nach Anna Hazare – ginge: von den Politikern, kurzum. Der Slogan, der auf allen Kepis prangt und die Kampagne prägt, lautet ‚Mera Neta Chor Hai‘ – mein Volksvertreter ist ein Dieb. Doch er ist ein demokratisch gewählter Dieb, auserkoren vom Volk in einem – im Grossen und Ganzen – immer noch transparenten Wahlprozess.
Soll man sich also gleich der Demokratie entledigen, da diese so offensichtlich versagt hat? Es ist schliesslich diese Demokratie, die es den Politikern erlaubt, Gesetze zu verabschieden, die mit ihrem Gewirr an Paragrafen und Kleingedrucktem ein Spielfeld bieten, um den Bürger in die Enge zu treiben – und Lösegeld zu fordern. Die ein bürokratisches Netz webt, das jede Berührung mit dem Staat kostenpflichtig macht, ohne Quittung natürlich. Ein Feigenblatt also, das den Staat unter dem Vorwand des Gemeinwohls zur Pfründe verkommen liess.
In Indien kam es schon wiederholt zu Volksbewegungen gegen die Obrigkeit, so etwa im Jahr 1975, als sich Indira Gandhi nur mit der Flucht in den Ausnahmezustand davor retten konnte. Aber immer richteten sich die Proteste gegen eine Regierung, nicht gegen den Staat, und noch weniger gegen die Demokratie; es war im Gegenteil deren Verletzung, die bekämpft wurde.
Zum ersten Mal scheint nun ein grosser Teil des städtischen Mittelstands bis tief hinein ins ländliche Indien eine Lösung zu wollen, die anti-politisch und anti-demokratisch ist. Sie soll eine Superbehörde schaffen, geleitet von ausgewählten ‚unbestechlichen Persönlichkeiten‘, der sich alle Politiker, ja sogar Teile des Justizwesens unterzuordnen hätten. Sie könnte den demokratischen Prozess aushebeln. Hazares Ultimatum illustriert dies: Entweder das Parlament akzeptiert meine Bedingungen und schreibt sie ins Gesetzesbuch oder mein Hungerstreik geht weiter.
Angst vor einem andern Messias
Die zahlreichen Anhänger jubeln, und wehe wenn ein Parlamentarier es wagt, an die demokratische Machtteilung und –delegation zu erinnern. Rahul Gandhi, Sonias Sohn, hatte am Freitag eine womöglich noch härtere Lösung zur Bekämpfung der Korruption vorgeschlagen, aber im Rahmen der Verfassung und nach einem umfassenden Konsultationsprozess. Denn sonst erhebe sich morgen vielleicht eine anderer Messias, der ‚im Namen des Volks‘ eine Religionspolitik fordere, die Indiens säkulare Prinzipien zugunsten der ‚demokratischen‘ Hindu-Mehrheit opfern wolle.
Das Resultat von Gandhis Intervention? Innert Stunden massierten sich Demonstranten vor seinem Haus, und die Hazare-Beraterin Kiran Bedi – Indiens erste (und erste integre) Polizei-Offizierin – unterschob ihm Opportunismus und Aufschiebetaktik.
Man kann es ihr nicht verargen. Vierzig Jahre dauert es nun, dass im Parlament eine Ombudsman-Gesetzgebung diskutiert wird; ein Entwurf nach dem anderen scheiterte an Verfahrensmängeln, wurde in der Kammer zerredet oder zwischen Kommissionen zerrieben. Doch nun ist das politische System zum ersten Mal gezwungen, in den Spiegel zu schauen. Mit dem Damoklesschwert von Hazares Hungertod vor Augen, muss das Parlament handeln, denn ein solcher Ausgang würde die bisher weitgehend gewaltlose Kampagne in Flammen aufgehen lassen.
Das erste Glas Zitronenwasser
Nachdem so lange Spiegelfechterei betrieben wurde, kann dieses Handeln nur eins bedeuten: Regierung und Parlament müssen sich selber scharfe Kontrollen auferlegen. Nur so können sie verhindern, dass der Ruf nach autoritären Antworten immer lauter wird und die demokratische Verfassung – Indiens säkulare Leistung – ausgehöhlt wird.
Es wäre ein trauriges Paradox, wenn der arabische Frühling von 2011, der Diktaturen beiseitegewischt hat, ausgerechnet in Indien, der Welt grösster Demokratie, das Gegenteil bewirkt.
Gestern Samstag akzeptierte das Parlament in einer Sondersitzung Hazares Forderungen, und einen Tag darauf trank der 74-Jährige sein erstes Glas Zitronenwasser nach zwölf Tagen.