Wenn Homosexualität in der Natur nicht unüblich ist, warum haben viele Menschen ganz offensichtlich ein Problem damit? Warum halten sie eine frei gewählte sexuelle Orientierung für moralisch falsch? Wir stossen hier direkt auf ein Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies.
Der Laysan-Albatros, ein Seevogel mit einer Flügelspannweite von zwei Metern, lebt auf den Hawaii-Inseln. Homosexualität ist unter diesen Vögeln keine Seltenheit. Lesbische Paare machen auf der Insel Oahu etwa einen Drittel der Population aus. Sie bleiben häufig ein Leben lang in monogamer Beziehung. Das schmälert die Reproduktion keineswegs. Eines der Weibchen lässt sich von einem «seitenspringenden» Männchen befruchten und zusammen zieht das lesbische Paar das Küken auf. Solch sexuelles Kreuz-und-quer ist im Tierreich gang und gäbe und spiegelt eine oft erstaunliche Verhaltensdiversität. Es existiert unter Bonobos, Delphinen, Giraffen, Schafböcken, um nur einige Arten zu nennen. Der kanadische Biologe Bruce Bagemihl listet in seinem Buch «Biological Exuberance» («Biologischer Überfluss», 1999) 450 Arten mit homosexuellem Verkehr auf.
Homosexualität und Homophobie
Wenn Homosexualität in der Natur nicht unüblich ist, warum haben viele Menschen ganz offensichtlich ein Problem damit? Warum halten sie eine frei gewählte sexuelle Orientierung für moralisch falsch? Wir stossen hier direkt auf ein Alleinstellungsmerkmal unserer Spezies. Homosexualität ist nicht typisch menschlich, wohl aber Homophobie. Sie ist ein kulturelles Produkt und wird genährt von Vorstellungen über das Richtige und das Falsche. Viele Kulturen stigmatisieren und diskriminieren Homosexualität nicht nur, sie kriminalisieren, ja, enthumanisieren sie. Und dies stets im Namen von Werten, oft religiösen Ursprungs. Das iranische Strafgesetz sieht für gleichgeschlechtlichen Sex die Todesstrafe vor und begründet dies mit den Rechtsansprüchen Gottes («Hadd-Strafe»). Auch in säkularen Staaten, die sich gegenüber LGBTIQ-Personen aufgeschlossener zeigen, existieren nach wie vor grosse Vorbehalte. Wir mögen Homophobie öffentlich ablehnen, insgeheim erfahren Homosexuelle Beleidigungen, Hassäusserungen, Gewaltandrohungen. Man muss nur bei Pink Cross Schweiz nachfragen. Immer wieder sorgen auch Anti-Gay-Eruptionen für Aufsehen. Verschwörungstheorien geistern herum. Eine Umfrage 2018 in Russland stellte fest, dass fast 70 Prozent der Befragten an eine Konspiration der Homosexuellen glauben. Sie würden versuchen, die spirituellen Werte Russlands durch «subversive» sexuelle Praktiken zu unterminieren. Einer von fünf Befragten befürwortete die «Elimination» von LGBTIQ-Personen. Der republikanische Politiker Robert Foster aus Mississippi möchte Verfechter von Rechten für Transsexuelle gleich vor ein Erschiessungspeloton stellen.
Abweichen vom «Richtigen»
Es geht hier nicht um Russland, rechtslastige Amerikaner, erzkonservativ religiöse oder schlicht beknackte Kreise. Homosexualität und Homophobie stehen für den Gegensatz von Natur und Kultur, biologischer Definiertheit und sozialer Konstruiertheit. Und in diesem Unterschied schwelt ein tieferes Problem, das gerade durch den Vergleich mit anderen Tieren besonders scharfe Konturen gewinnt: Wie gehen Spezies mit Abweichungen vom «Richtigen» um? Soziale Tiere entwickeln durchaus einen Sinn dafür, was sich «gehört» und was nicht. Ein instinktiver Verhaltenskodex gewährleistet das Gleichgewicht und die Stabilität einer Gruppe. Störungen und Abweichungen werden sanktioniert. Wir Menschen als soziale Tiere geben uns nicht mit einem solchen Verhaltenskodex zufrieden, wir machen ihn explizit, «sublimieren» ihn, leiten ihn aus philosophischen und religiösen Ideen ab. Wir wollen Gründe, warum sich etwas nicht gehört und bestraft werden muss.
Der Andere – eine erbarmungslose Kategorie
Und hier assistiert uns eine erbarmungslose Kategorie, die sich in der Geschichte unserer Spezies herausgebildet hat: jene des Anderen. Sie kommt ja explizit in Wendungen für Homosexualität wie «andersrum» oder «vom anderen Ufer» zum Ausdruck. Im Namen dieser Kategorie fügen wir Artgenossen Schmerz und Leiden zu, auf eine in der Natur nie gesehene Weise. Die Banalität der Grausamkeit beginnt damit, dass man jemanden als anders betrachtet. Der Mensch ist ein jagendes und mordendes Tier, wie seine nahen Primatenverwandten. Aber er jagt und mordet im Namen eines Systems von Rechtfertigung, Überwachung, Repression und Strafe. Das Schlimmste am Menschen ist nicht, dass er Schandtaten begeht, sondern stets wieder eine Legitimation findet, Schandtaten «rechtschaffen» und «befugt» zu begehen.
Infantizid als Beispiel
Nehmen wir das Beispiel Infantizid. Er kommt auch im Tierreich vor. Die Primatologin Jane Goodall schildert ihn zum Beispiel unter Schimpansen. Der Mensch hebt ihn auf systematische Stufe. Der Nazikriegsverbrecher Otto Ohlendorf begründete im Nürnberger Prozess den Massenmord an Tausenden von jüdischen Kindern als Präventivmassnahme. Die Ordnung des Dritten Reichs müsse permanent gewährleistet sein, und die Kinder von getöteten jüdischen Eltern würden unvermeidlich diese Ordnung gefährden. Eine Generation hat ausgerottet zu werden, um zu verhindern, dass sie den Mördern ihrer Eltern die Schandtat verübelt.
Ein ungeheuerliche Logik – nicht ausschliesslich eine Nazi-Logik. 2021 schreckten uns Berichte über Massengräber von anonymen Kindern in kanadischen Indigenenschulen («residential schools») auf. Es handelt sich um Opfer eines hundert Jahre alten Umerziehungsprogramms von Ureinwohnern Kanadas. Auch dazu autorisierte eine «Moral». Der erste kanadische Premierminister, John Alexander Macdonald, formulierte sie 1883 so: «Im Reservat, wo sich die Schule befindet, lebt das Kind mit seinen Eltern, mit Wilden; es ist umgeben von Wilden; und es mag lesen und schreiben lernen (…), aber es bleibt einfach ein Wilder, der lesen und schreiben kann (…). Indianische Kinder sollten möglichst dem Einfluss ihrer Eltern entzogen werden, und der einzige Weg ist der, sie in zentrale industrielle Trainingsschulen zu schicken, um die Gewohnheiten und Denkweise von Weissen anzunehmen.» Systematische Umerziehung, mit offenbar einkalkulierten Kollateralschäden, die die kanadische «Truth and Reconciliation Commission» unumwunden als «kulturellen Genozid» einstufte. Demonstranten rissen 2020 eine Statue des Politikers in Montreal nieder. Im Namen einer anderen Moral, nota bene.
Irrläufer der moralischen Evolution
Aber handelt es sich hier nicht um bedauerns- und verachtenswerte Ausnahmen von der Regel? Die Frage ist Teil des Problems. Was wäre denn die Regel? Dass Moralität den Menschen «verbessern» soll? Was, wenn es sich gerade umgekehrt verhielte? Viele Menschenverbesserer stellten sich als die schlimmsten Verächter des Menschen heraus. Ich möchte selbstverständlich nicht Moralität generell diskreditieren. Und die «Natürlichkeit» der Homosexualität ist primär kein ethisches Argument. Sie soll uns nur mit einer aussermenschlichen Perspektive anfreunden. Aus dieser Perspektive kann man das Alleinstellungsmerkmal auch so interpretieren: Der Mensch ist ein Irrläufer der moralischen Evolution – dies ironischerweise, weil er sich für das einzige moralfähige Tier hält.
Nichts ist menschlicher als der Holocaust
Gewiss, Moral lässt sich nicht eindeutig definieren. Wenn wir aber von der Minimaldefinition ausgehen, dass sie primär als Instrument zur Verminderung von Schmerz und Leiden dient, dann müssten wir die anderen Tiere zum Vorbild nehmen. Sie entwickeln keine Goldene Regel der Ethik oder einen kategorischen Imperativ, aber die Natur scheint sie mit einem Mass ausgestattet zu haben, das Gewalt begrenzt. Der Mensch dagegen verfügt über die kognitive Ausrüstung zu wiederkehrender Masslosigkeit der Gewalt. Im Namen moralischer Autorität. Er ist das moralische Untier, buchstäblich. Nichts ist menschlicher als der Holocaust. Und hier kann man nur mit Nietzsche fragen (Morgenröte, 333): «Wir halten Tiere nicht für moralische Wesen. Aber meint ihr denn, dass die Tiere uns für moralische Wesen halten? – Ein Tier, welches reden konnte, sagte: ‘Menschlichkeit’ ist ein Vorurteil, an dem wenigstens wir Tiere nicht leiden.» Mir scheint, an diesem Vorurteil müssen wir Menschen dringend arbeiten. Homosexualität ist eine von vielen Ansatzstellen.