Einst gab es Kremelogie, eine unexakte Wissenschaft, die versuchte, herauszufinden, was im Kremel gedacht und getan wurde. Heute muss man Washingtononlogie betreiben, wenn man verstehen will, wie die Welt sich dreht. Exakter ist die Wissenschaft nicht geworden. Soviel lässt sich erraten. Die Beobachter und Entscheider in Washington sind hin und hergerissen zwischen Wünschen und Hoffnungen. Man kann sie »Stabilität« und »Demokratie« nennen. (Gemeint sind Stabilität und Demokratie, wie sie sich W. wünscht, daher die Anführungszeichen).
1. "Stabilität"
Im Falle Ägypten bedeutete »Stabilität« seit 30 Jahren Unterstützung eines Einmann-Regimes in Kairo, das in seinen ersten Jahren, kurz nach der Ermordung Sadats im Jahr 1981, »Liberalisierung« versprach. Unterstützt wurde dieses Regime mit viel Geld. Diese Liberalisierung wurde aber alleine als »Liberalisierung« eines Wirtschaftssystems verstanden und nicht als Liberalisierung der Politik. Umgebaut wurde dieses System im Laufe der letzten 30 Jahre zu einer Kleptokratie.
Um die politische »Stabilität« zu wahren, brauchte dieses Regime einen Unterdrückungsapparat (»Sicherheitsapparat« genannt, um in W. besser anzukommen). Dieser Apparat wurde Jahr für Jahr ausgebaut, und zwar soweit, bis er sogar einen Arm ins Verbrechermilieu hinein entwickelte. Der wichtigste Zweck war, W. die Notwendigkeit einer harten Ordnungsmacht in Kairo immer wieder vor Augen zu führen. Gleichzeitig konnte der Verbrecherarm für die Niederhaltung der einfacheren Bevölkerung in den Aussenquartieren, Elendsvierteln und Provinzstädten eingesetzt werden. Wieviel W. davon wusste, werden wir nie erfahren. Doch ist deutlich, dass W. nicht zu viel davon zur Kenntnis nehmen wollte (in der Fachsprache »deniability« aufrecht erhalten).
Der Grund war, dass das ägyptische Regime die »Stabilität« in der Nahostpolitik entscheidend mit aufrecht erhielt. Seit dem Ausscheiden der grössten Armee aus dem Nahostkonflikt (der ägyptischen durch den ägyptischen Separatfrieden von 1979) konnte das Regime in Israel tun und lassen, was es wollte. Zum Beispiel konnte es 1982 bis nach Beirut marschieren. Vor allem aber kann es die 1967 von Israel besetzten Gebiete mit immer mehr Israeli besiedeln - offensichtlich mit dem Ziel, immer grössere Teile davon de facto zu annektieren.
Von Washington bemuttert und gesäugt
In W. wurde dies als »Stabilität« gesehen, besonders seitdem es von 1993 an einen »Friedensprozess« gab. Dieser diente Israel dazu, seine wahren Absichten in den Augen von W. zu verschleiern. Dort soll es bis heute Leute geben, die glauben, oder vorgeben zu glauben, der »Friedensprozess« sei noch immer am Leben und könne zu einem »Frieden« führen. In Wirklichkeit war er tot geboren und starb dann noch einmal unter den Faustschlägen Ariel Sharons im Jahre 2000, als deren Folge die zweite Intifada ausbrach.
Diese Pseudo-Nahost-Stabilität wurde mit der aktiven Beihilfe des ägyptischen Ein-Mann-Militärregimes und seiner Schergen von W. aus bemuttert und gesäugt. Man muss annehmen, so absurd das sein mag, dass es immer noch Leute in W. gibt, die diese Art Stabilität mit ihrem menschenunwürdigen Drum und Dran (Folterkammern gehören dazu) weiterhin aufrecht zu erhalten suchen.
2. »Demokratie«
W. versteht sich selbst als »demokratisch«. Dies ist eine Erbschaft aus historischen Zeitläuften, die immer noch nachwirkt. Man könnte heute realistischer Weise in den USA von einer "imperialen Demokratie" sprechen, in welcher der schon von Eisenhower denunzierte »military-industrial complex« eine immer grössere Rolle spielt. Zu der demokratischen Erbschaft gehört auch ein Interesse daran, demokratische Regime im Nahen Osten zu fördern.
Doch in diesen Wunsch fliessen andere Wünsche mit ein, die wenig mit Demokratie und viel mit den imperialen Aspekten Amerikas zu tun haben: Schutz für Israel, wie immer dieser ebenfalls demokratisch genannte Staat sich verhalten mag. Sowie Sicherstellung der Erdöllieferungen nach den USA. Ferner: Transitrechte durch die Nahostregion nach dem Fernen Osten, »Terrorbekämpfung« usw. Diese Wünsche entsprechen den Interessen der imperialen Demokratie.
Kairos bisherige Rolle
Das nahöstliche Land mit der grössten Armee und der leistungsfähigsten - neben jener Israels - diente W. als strategischer Partner im Nahen Osten. Saudi-Arabien zum Beispiel konnte sich sicherer fühlen und weiter bedenkenlos Erdöl nach den USA liefern. Dies, solange es wusste: Die ägyptische Armee wird nie gegen Saudi-Arabien eingesetzt werden. Es gab einen Augenblick in der nahöstlichen Geschichte, in dem Saudi-Arabien das Erdöl nach den USA und nach ausgewählten europäischen Staaten sperrte, weil die ägyptische Armee Krieg gegen Israel führte. Das war 1973 als Sadat die »arabische Erdölwaffe« einsetzte. Mubarak war damals Oberkommandant der ägyptischen Luftwaffe. In der westlichen Welt entstand eine Wirtschaftskrise.
Dass dies nicht wieder geschah, war W. wohl wichtiger als das Ausmass an Demokratie oder die Einhaltung von Menschenrechten. Wenn das Regime in Kairo so tat, als ob es Demokratie und Menschenrechte am Nil wirklich gäbe, war das hilfreich für die Aufrechterhaltung der Interessen der imperialen Demokratie, die dann nur vorgeben musste, sie glaube daran.
Stabiler Übergang zur Demokratie?
Doch dieses 30 Jahre alte System ist offensichtlich durch die Demonstrationen in Ägypten in die Krise geraten. W. steht vor der Frage, wie kann es weitergehen? Manche der Ratgeber Obamas schienen zu glauben, es könnte einen »stabilen Übergang« zu einem demokratischen Regime nach Mubarak unter Vizepräsident Soleiman geben.
In Wirklichkeit war von vorneherein klar, dass der langjährige Geheimdienstchef Mubaraks auf Zeitgewinn spielen würde, und zwar in der Hoffnung, die Demonstranten zu ermüden, zu spalten und am Ende auszuschalten. Es sieht so aus, als ob Soleiman seine Karten etwas allzu offen hingelegt hätte, als er den ihm hörigen Zeitungsleuten in Kairo, am 9. Oktober erklärte, Ägypten sei nicht »reif für Demokratie«. Wenn der Dialog mit der Opposition nicht gelinge, sei ein Coup zu erwarten, der das Chaos bringe. Er führte dies so aus:
»Ich denke an einen Coup des Regimes gegen sich selbst oder einen militärischen Coup. Irgendeine Macht, ob es die Armee wäre oder die Polizei oder der Sicherheitspparat (»Intelligence Agency«) oder die (Muslim-) Bruderschaft oder die Jugend selbst, könnte ein »kreatives Chaos« hervorrufen, um das Regime zu beenden und die Macht zu übernehmen«.
Am nächsten Tag zog der ägyptische Aussenminster nach und erklärte, sein Land könne den Ausnahmezustand nicht aufheben, wie die Demonstranten es fordern. Auch der amerikanische Vizepräsident, der täglich mit Soleiman telefonieren soll, habe dies verlangt.
Der Aussenminster erklärte dem amerikanischen Radio PBS: »Ich war wirklich verblüfft, weil sich gerade jetzt, wo wir reden, 17'000 Gefangene frei auf der Strasse befinden. Sie sind aus den zerstörten Gefängnissen entwichen. Wie können Sie mich da auffordern, das Notstandsgesetz aufzugeben, solange ich diese Probleme habe? Geben Sie mir Zeit, erlauben sie mir, die Kontrolle zu erlangen, die Nation zu stabilisieren, den Staat zu stabilisieren, und dann können wir über diese Frage sprechen.»
Ein Ägypter der sich bei der BBC meldete, antwortet drauf: "Als Ägypter möchte ich erklären, was das Notstandsgesetz in der realen Welt für das ägyptische Volk bedeutet. Die Sicherheitskräfte haben die Befugnis, jeden Bürger zu entführen und beliebig lang festzuhalten, ohne Anklage und ohne Rechtsberatung. Opfer dieses Gesetzes (wenn man es ein Gesetz nennen kann) werden oft misshandelt und gefoltert. Ihre Familien wissen unter Umständen nicht, wo sie sind, während Tagen, Monaten oder Jahren. Es sei denn die Familie findet jemanden weit oben unter den Mächtigen, der willig ist, über eine Freilassung zu verhandeln oder auch nur über einen Angehörigenbesuch. Nach ihrer Freisetzung leiden die Opfer unter schweren Traumata und manchmal auch unter physischen Schäden. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sie arbiträr wieder und wieder festgenommen werden, so dass sie nicht mehr in der Lage sind, ein normales Leben zu führen."
Geschürte Angst vor dem Chaos
Die Sache mit den aus den Gefängnissen entlaufenen Gefangenen, auf die der Aussenminister anspielt (er nennt - um des Propaganda-Effektes willen - eine sehr hohe Zahl) ist höchst obskur. Der Ministerpräsident hat auch davon gesprochen. Er äusserte am staatlichen Fernsehen die Ansicht, die Gefangenen seien entlaufen, »weil die unteren Ränge der Polizei ihren Vorgesetzten einen Streich spielen wollten«. Allen Berichten nach, hatten sich die Wächter und Wachen am 2. Februar aus den Gefängnissen entfernt. Dies war der Tag der von der gewalttätigen Gegendemonstrationen zu Gunsten Mubaraks - Demonstrationen, die von der Polizei geschürt wurden. Am wahrscheinlichsten ist, dass es sich dabei um eine Anordnung des Innenministers Habib Adli handelte (der am nächsten Tag entlassen wurde und gegen den eine Untersuchung eingeleitet worden sei). Diese Aktion hatte wohl wie alle seine anderen Provokationen dazu dienen sollen, vermehrte Unruhe zu stiften, um der Bevölkerung Angst vor dem Chaos einzujagen.
Angst vor dem Chaos möchte man offensichtlich auch den Amerikanern einjagen. Bei manchen scheint das zu gelingen, bei anderen weniger, und noch andere scheinen zu schwanken zwischen Demokratie und Stabilität für Ägypten.
Dabei gilt, je länger die Demonstranten durchhalten können und je mehr sich ihre Bewegung, wie dies begonnen hat, auch als Streikbewegung unter den Arbeitern ausbreitet, desto deutlich sollte es eigentlich auch den Amerikanern werden, dass die Alternative keine echte Alternative mehr ist, weil die alte Stabilität unter dem bisherigen Regime kaum mehr wiederhergestellt werden kann, und die Demokratie zweifellos im besten Falle nach einer schwierigen Übergangszeit als einigermassen stabiles Regime entstehen wird.