Unter dem Titel, „Die Flüchtlingskanzlerin“, strahlte das ZDF am Mittwochabend eine Dokumentation aus. Es ging darum zu ergründen, warum sich die Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage nicht nur in ihrem eigenen Lager weitgehend isoliert hat. Ihr Popularitätssturz seit dem vergangenen September ist nur deshalb nicht beispiellos, weil Helmut Kohl nach der Aufdeckung der „Schwarzen Kassen“ umstandslos in den Orkus befördert wurde – übrigens auch unter Mitwirkung Angela Merkels.
Raffinierte Nachzüglerin
Warum war Merkel aussergewöhnlich populär? Böse Zungen sagten, weil sie von den Deutschen so gut wie nichts gefordert habe. Probleme habe sie wegmoderiert und so getan, als liefe unter ihrer Mitwirkung die Welt auf vertrauten Bahnen. Wer Merkel wählte, wählte den Komfort.
Immer wieder war zu hören, dass Merkel in kniffeligen Fragen den Diskussionen nur folgte, um sich dann, wenn sie die Richtung erkannte, an die Spitze zu setzen. Sie war also eine raffinierte Nachzüglerin, die es immer schaffte, gerade noch rechtzeitig das Feld zu überholen.
Die "Patin"
Diese Bild bekam einen ersten Riss, als sie nach der Katastrophe von Fukushima von jetzt auf gleich die Energiewende ausrief. Das war kurz nach der Laufzeitverlängerung für deutsche Atomkraftwerke, für die die gelernte Physikerin von der Öko-Bewegung heftig gescholten worden war. Und dann kam der Seitenwechsel.
In grossen Teilen der CDU und erst recht in der CSU hat man ihr das nicht verziehen. Die Publizistin Gertrud Höhler beschrieb sie als „Patin“, die die Wirtschaftsordnung mit mafiaähnlichen Methoden untergräbt. Und in der Analyse des ZDF kommen honorige Politiker wie Wolfgang Bosbach zu Wort, die den zunehmend autokratischen Stil Merkels bitter beklagen. Wer irgendetwas kritisiere, werde gleich als Feind der Kanzlerin abgestempelt, so Bosbach. Und Horst Seehofer spricht in aller Schärfe davon, dass Merkel am 4. September 2015 mit der Öffnung der Grenzen den Konsens der Christdemokraten zerbrochen habe.
Kühles Kalkül
Was treibt die Kanzlerin an? Purer Opportunismus kann es nicht mehr sein, denn dann hätte sie sich nicht derartig viele Gegner geschaffen. Und man mag auch nicht glauben, dass es irgendein Machtwahn ist, der die derzeit angeblich immer noch „mächtigste Frau der Welt“ (Forbes) in die eisigen Höhen einsamster Entscheidungen treibt.
Es lässt sich eine Spekulation anstellen, die auf dem beruht, was Merkel selbst sagt. Sie sagt, dass sich Flüchtlingsströme des gegenwärtigen Ausmasses auf Dauer nicht durch Grenzbefestigungen aufhalten lassen. Was bleibt dann? Wenn die Gesellschaft sich nicht nach aussen abschotten kann, muss sie sich innen verändern. Man kann in dieser Überlegung das kühle Kalkül der gelernten Naturwissenschaftlerin sehen.
Christliche Wurzeln
In der Sendung wird eine zweite Antwort gegeben, die sich auf die andere Wurzel von Merkels Denken bezieht: das Christentum. Der Pfarrer Rainer Eppelmann ist der politische Weggefährte Merkels, der sie am längsten kennt. Er machte sie zur Pressesprecherin des „Demokratischen Aufbruchs“ gegen Ende der DDR. Gemeinsam traten sie später der CDU bei.
Eppelmann erinnert in der Sendung daran, dass Merkel in einem christlichen Pfarrhaus aufwuchs und von dem Gedanken geprägt worden sei, dass der Starke dem Schwachen helfen müsse. Sie frage, so Eppelmann, wie sich dieses Land innerhalb der nächsten zehn Jahre verändern werde. Werfe es die christliche Ethik über Bord, sei es tatsächlich nicht mehr „ihr Land“. Wachse es an den Aufgaben im Zeichen christlicher Ethik, so bleibe es das Land, in dem sie, so Eppelmann, sehr gerne lebe und sich zu Hause fühle. Sie habe Träume, sei aber keine Träumerin, fügt er hinzu.
Härten der Politik
Auch Jean-Claude Juncker führt Merkels „tiefe Überzeugungen“ auf das Christentum zurück. Und die Journalistin Evelyn Roll, Merkel-Biographin, erzählt in der Sendung, dass sie Merkel noch nie so gelöst und frei erlebt habe wie in den letzten Monaten. Zu den Härten der Politik gehört allerdings auch, dass Merkel die Kritik an ihrem Kurs durch einen Pakt mit Erdogan zu mildern versuchte. Das wiederum ruft Horst Seehofer auf den Plan, der der Christin Merkel aus christlicher Sicht ins Stammbuch schreibt, dass der Zweck nicht alle Mittel heilige.
Die Sendung über die „Flüchtlingskanzlerin“ legt den Schluss nahe, dass Merkel heute erkennbarer ist als früher, dass sie mehr ist als eine geschickte Opportunistin, aber ihr weiterer Kurs muss zeigen, wie weit ihre Durchhaltefähigkeit reicht. Leider wollte sie den Reportern für diese Sendung kein Interview geben.