Joe Bidens Rede zur Lage der Nation verlief besser als erwartet oder gar befürchtet. Ob das vor dem Kongress Gezeigte allerdings ausreicht, um im Wahlkampf 2024 die Zweifel an seinem Alter und seiner geistigen Fitness zu zerstreuen, bleibt abzuwarten.
Die jährliche Rede des amerikanischen Präsidenten zur Lage der Nation (SOTU) war früher ein feierliches Ritual. Vor versammeltem Kongress und erlauchtem Publikum im Capitol suggerierte der Anlass Überparteilichkeit und ein geteiltes Gefühl der Zielstrebigkeit, gewürzt mit einer gehörigen Portion Patriotismus. Der Präsident zählte jeweils stolz seine politischen Erfolge auf und versprach der Nation selbstbewusst weitere Errungenschaften. Ronald Regan äusserte 1983 als Erster die optimistische Einschätzung «The State of the Union is strong», eine Deklaration, die seine Nachfolger seither, allenfalls leicht variiert, zu wiederholen pflegen.
Doch Joe Bidens 68-minütige Rede vergangene Woche in Washington DC war keine seichte Übung in Harmonie, sondern eine unverblümte Kampfansage. «This was not Old Man Joe», diagnostizierte «New York Times»-Korrespondent Peter Baker: «This was Forceful Joe.» Und weiter im Text: «This was Angry Joe. This was Loud Joe. This was Game-On Joe».
Keine Schwäche gezeigt
Keine Spur von alt, sondern kraftvoll, wütend, laut, kampfbereit – es sind Eigenschaften, die bisher eher Joe Bidens politischem Gegner Donald Trump zugeschrieben worden sind als dem Amtsinhaber im Weissen Haus, dessen körperliche und geistige Fitness Amerikanerinnen und Amerikaner jüngsten Umfragen zufolge überwiegend in Frage stellen. Die Presse berichtete, die schriftliche Version von Bidens Rede habe nicht weniger als 80 Ausrufzeichen aufgewiesen, zu denen der Präsident mündlich noch mehrere addiert habe.
Vergeblich hatte die republikanische Opposition darauf gehofft, Joe Biden würde vor einem Millionenpublikum am Fernsehen Schwäche zeigen, stolpern, sich versprechen oder sich verhaspeln. Sie sah sich, von ein paar Hustern abgesehen, getäuscht, was sich am Gesicht Mike Johnsons, des Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, schön ablesen liess.
Der Republikaner, hinter Joe Bidens linker Schulter sitzend und stets im Blickfeld der Fernsehkameras, wirkte mit unkontrolliert wechselnden und verzerrten Mienen, als litte er unter akuter Verstopfung. Dabei hatte Mike Jonson seine Fraktion im Vorfeld der Rede noch ermahnt, sich während den Ausführungen des Präsidenten gesittet zu verhalten. Genauso gut hätte er sie bitten können, nicht mehr zu atmen, schrieb ein Kolumnist der «Washington Post».
Unanständige Republikaner
Republikanische Abgeordnete machten sich mit Buhrufen, Johlen und Schreien bemerkbar und versuchten so, den Redner aus dem Konzept zu bringen. Doch Joe Biden zeigte sich ungewohnt agil, reaktionsschnell und witzig und drehte den Spiess um. Einige Republikaner wie Senator J. D. Vance (Ohio) blieben dem Anlass gar fern oder verliessen während Bidens Rede den Saal. Andere gähnten demonstrativ oder spielten mit ihren Handys.
Geärgert haben dürfte die Opposition auch der Umstand, dass Joe Biden seinen Gegner Donald Trump nie namentlich nannte. Er sprach lediglich von seinem «Vorgänger, einem früheren republikanischen Präsidenten». Der habe Wladimir Putin Regime wissen lassen, sie könnten «zum Teufel anstellen, was immer sie wollten» mit Nato-Mitgliedern, die die Allianz finanziell nicht ausreichend unterstützten: «Ich denke, das ist unverschämt, gefährlich und unannehmbar.» Stattdessen erinnerte Biden an Ronald Regans Aufforderung an die Adresse Michail Gorbatschows, die Berliner Mauer einzureissen: «Tear down this wall.»
Der ungenannte «Vorgänger»
Joe Biden sprach auch davon, sein «Vorgänger» habe versucht, die Geschichte des Sturms auf das US-Capitol am 6. Januar 2021 umzuschreiben: «Du kannst dein Land nicht nur lieben, wenn du gewinnst.». Ferner habe er versagt, als die Corona-Pandemie vor vier Jahren in den USA zu wüten begann und zudem wenig unternommen, um Chinas wachsenden Einfluss zu bekämpfen und auch nichts getan, um die Schusswaffengewalt im Lande einzudämmen.
Den Worten des Präsidenten hat die Vision amerikanischer Grösse die Grundwerte «Ehrlichkeit, Anstand, Würde, Gleichheit» zu umfassen. Die Alternative dazu sei «Groll, Rache und Vergeltung», wie Donald Trump sie bei jedem Wahlkampfauftritt äussere. Dieser reagierte denn auf Bidens Äusserungen wie gewohnt beleidigt und verärgert. «Dies war unter Umständen die wütendste, am wenigsten einfühlsame und schlechteste Rede zur Lage der Nation», schrieb er auf seinem News-Portal: «Es war eine Blamage für unser Land.»
Doch nicht nur Trump, auch dessen republikanische Partei kriegte ihr Fett ab. Biden sprach von «you in this chamber» als Lakaien des früheren Präsidenten, die verhinderten, dass die Ukraine die nötige Unterstützung erhalte und ein überparteiliches Abkommen zur Lösung der Probleme an der Südgrenze zu Stande komme. Er sparte auch nicht mit Kritik am Bestreben der Opposition, in den Bundesstaaten Abtreibungsverbote durchzusetzen und erinnerte an die «Macht der Frauen», die sich wie bei den Urnengängen 2020 und 2022 auch 2024 zeigen werde: «Mein Gott, welche anderen Freiheiten wollt ihr uns noch nehmen?»
Nur wenig zu Gaza
Und Joe Biden machte sich über jene Abgeordneten lustig, die 2021 gegen sein grosses Infrastrukturgesetz im Umfang von 21 Milliarden Dollar gestimmt hatten: «Wer immer unter euch dieses Geld in seinem Distrikt nicht will, lasse es mich einfach wissen.» Er forderte das Parlament konkret auf, das Gleichheitsgesetz («Equality Act»), das Gesetz zur Förderung der LBGTQ-Gemeinschaft («PRO») zu erlassen und den Mindestlohn anzuheben.
Doch wer klare Worte des Präsidenten zum aktuellen Krieg in Gaza erwartet hatte, sah sich enttäuscht. Biden kündigte ausser der Bejahung des Selbstverteidigungsrechts Israels und der Notwendigkeit humanitärer Hilfe für die palästinensische Bevölkerung lediglich an, die USA würden an der Küste Gazas einen temporären Hafen errichten – ein mühsames und unsicheres Unterfangen, dessen Umsetzung noch Wochen dauern dürfte. Was jüngeren und vor allem arabischstämmigen Wählerinnen und Wählern sowie progressiven Demokratinnen und Demokraten als Argument nicht genügt haben dürfte.
Ein Beispiel von Selbstironie
«Es ist ein beschämendes und unerhörtes Eingeständnis, dass seine Regierung trotz Amerikas übergrosser Rolle bei der Finanzierung und Unterstützung dieses Krieges Israel nicht einmal dazu bringen kann, hungernden Zivilisten auf dem Landweg Hilfe zukommen zu lassen», schrieb «New York Times»-Kolumnistin Megan C. Stack – eine einsame Stimme im Chor der vom Blatt zur Rede zitierten Kommentatorinnen und Kommentatoren: «Bei mehr als 30’000 Toten, einer drohenden Hungersnot und unmissverständlichen Protesten aus den Reihen seiner eigenen Partei schuldete Biden Amerikanerinnen und Amerikanern ohne Zweifel eine direktere Erklärung für seine fortgesetzte Unterstützung des Angriffs auf Gaza.»
Immerhin dürfte es Joe Biden bis zu einem gewissen Grad gelungen sein, dank seines kraftvollen und lautstarken Auftritts weit verbreitete Bedenken zu zerstreuen, er sei zu alt. «Ich weiss, dass ich nicht so aussehe, aber ich bin schon eine Weile hier», scherzte der 81-Jährige gegen Ende seiner Rede: «Während meiner Karriere haben sie mir gesagt, ich sei zu jung. Sie wollten mich seinerzeit für Abstimmungen nicht in den Lift zur Senatskammer lassen. Und sie haben mir gesagt, ich sei zu alt. Ob jung oder alt, ich habe immer gewusst, was Bestand hat.» Joe Biden war 1972 als Dreissigjähriger als Vertreter des Staats Delaware erstmals in den US-Senat gewählt worden.
Relativ vage äusserte sich der Präsident zur Lage von Amerikas Wirtschaft, die objektiv gesehen ziemlich gut ist, Umfragen zufolge der Bevölkerung dennoch grosse Sorgen bereitet. Zwar ist das Konsumentenvertrauen im Steigen und die Inflation im Sinken begriffen, nach wie vor aber machen den Leuten die hohen Preise zu schaffen. Auch die Arbeitslosenrate ist nicht besorgniserregend. Doch um die Inflation zu drosseln, müssen die Zinsraten steigen, was etwa den Kauf von Häusern oder Autos spürbar verteuert. Biden war trotzdem zuversichtlich. «Ich habe (2020) eine Wirtschaft geerbt, die am Abgrund stand,» verkündete er: «Heute ist unsere Wirtschaft der Neid der Welt.»
«Demokratie oder Diktatur»
Das erste Echo auf Bidens Rede zur Lage der Nation in den Medien war überwiegend positiv. Nur wenige zeigten sich nicht überzeugt, wie zum Beispiel «New York Times»-Kolumnist Ross Douthat: «Viele Leute werden sich einreden, dass dies eine gute Rede war, ein echter Knaller. Dieses aufgestellte Gerede wird für Biden gut sein; er braucht gestärkte Rückgrate. Aber eigentlich war es keine gute Rede; es war eine Tirade, die den Desillusionierten wenig bot. Und jeder Aufschwung wird vergänglich sein.»
Dagegen äusserte sich Douthats ebenfalls konservativer «Times»-Kollege Bret Stephens wesentlich beeindruckter: «Eine kraftvolle, wendige Rede, die alle Zweifel an Bidens Nominierung ausräumen wird. Er brachte auf den Punkt, was bei der Wahl auf dem Spiel steht: Demokratie oder Diktatur, Wahlfreiheit oder Wahlverweigerung, Freiheit von Angst versus Gleichgültigkeit gegenüber Sicherheit. Wo hat sich dieser Joe Biden in den vergangenen drei Jahren bloss versteckt?»