Auf die Frage, welche langfristigen Prognosen im Wirtschaftsleben möglich seien, prägte der grosse Ökonom John Maynard Keynes den schönen Satz: «In the long run we are all dead.» In Zeiten finanzieller und atomarer Kernschmelzen bekommt dieses Bonmot eine überraschende Aktualität. Lassen wir einmal die menschliche Tragödie und die unabsehbaren Umweltschäden des Super-GAU in Fukushima beiseite und konzentrieren wir uns auf die möglichen finanziellen Folgen und auf die Frage, wer das bezahlen wird.
Kurzer Ausflug ins Risk-Management
Zunächst einmal eine schlechte Nachricht für Zocker: Die Wahrscheinlichkeit, sechs Mal hintereinander eine Sechs zu würfeln, ist gleichhoch wie die einer beliebigen anderen Zahlenfolge. Da ein Würfel kein Gedächtnis hat, ist sie bei jedem neuen Wurf wieder 1/6. Bei komplizierteren Vorhersagen geht man von der guten, alten Gaussschen Normalverteilungskurve aus. Sie heisst auch Glocke, weil sie im Rahmen einer Normalverteilung wahrscheinlichere von unwahrscheinlicheren Ereignissen unterscheidet. Es ist zum Beispiel eher unwahrscheinlich, dass ich beim Überqueren der Strasse von einem Banker überfahren werde. Daher muss ich mit diesem Ereignis nicht wirklich rechnen. Es wäre aber ein Irrtum, es gänzlich auszuschliessen.
Ähnlich verhält es sich mit der Möglichkeit, dass im internationalen Finanzkreislauf oder beim Betreiben eines AKW eine Kernschmelze stattfindet. Das eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat (Ensi) geht davon aus, dass hierzulande ein «Kernschaden» ein Mal in 100 000 oder ein Mal in 1 000 000 Jahren eintreten könnte. Es handelt sich also um ein sehr unwahrscheinliches Ereignis. Wir wollen gar nicht die Berechnungsgrundlagen hinterfragen, mit denen das Ensi auf diese Zahl gekommen ist. Wir wollen nur festhalten: Diese Zahl sagt nichts darüber aus, wann eine Kernschmelze stattfinden könnte. Das kann heute sein oder in einer Million Jahren, die Wahrscheinlichkeit, wie beim Würfeln, ist gleich hoch. Und nach der Kernschmelze kann man sich nicht beruhigt zurücklehnen und annehmen, dass sie nun erst in einer Million Jahre das nächste Mal stattfände. Denn auch der Super-GAU hat kein Gedächtnis, es kann schon morgen wieder passieren.
Der menschliche Faktor
Schlamperei, Fehlmanipulationen, implizite Inkaufnahme einer Risikosteigerung haben sowohl bei der letzten Finanzkrise wie beim AKW Fukushima die Wahrscheinlichkeit eines GAU deutlich gesteigert, ohne in die Risikoberechnungen einzufliessen. Um beim letzten Beispiel zu bleiben, ein von einer US-Blaupause abgezeichnetes AKW an der Küste einer hoch erdbebengefährdeten Insel zu bauen und auf die Normalverteilung einer Risikoberechnung zu vertrauen, die ein Erdbeben der Stärke 9 und einen Tsunami mit einer Wellenhöhe von über 9 Metern als zu unwahrscheinlich nicht beinhaltet, führt zur völlig falschen Analyse post festum, dass ein solches Ereignis unvorhersehbar, sozusagen Schicksal, Gottes unerforschlicher Ratschluss, gar die Macht der Natur war. Entscheidend bei all diesen Risikoberechnungen ist natürlich zunächst einmal die Frage, wie die Kosten eines potenziellen Schadensereignisses bei der Einpreisung des Produkts, in diesem Fall Strom, berücksichtigt werden.
Natürlich geht es nur ums Geld
Nehmen wir einmal an, dass die finanziellen Folgen eines GAU berechenbar seien. Und schon sind wir mitten in der Versicherungsmathematik. Also bei der simplen Frage, welche Risikoprämie im Preis inbegriffen sein sollte. Man muss kein mathematisches Genie sein, um zur naheliegenden Schlussfolgerung zu kommen, dass es dabei einen hübschen Unterschied macht, ob man die potenziellen Folgen bei 2 Milliarden Franken oder bei 4000 Milliarden Franken ansetzt. Die erste Zahl ist die Schadenssumme, für die Schweizer AKW-Betreiber versichert sind. Die zweite gibt laut NZZ die Ergebnisse einer Studie des Bundesamts für Energie wieder, die nach Tschernobyl die möglichen Auswirkungen eines GAU im AKW Gösgen berechnete. Normalerweise wird die Prämie für eine Versicherung ausgerechnet, indem man die Schadenspotenziale mit der Eintrittswahrscheinlichkeit eines Ereignisses in Modellrechnungen korreliert. Es liegt auf der Hand, dass hierbei schon kleine Verschiebungen sehr weit rechts vom Komma gigantische Auswirkungen auf die Versicherungsprämie haben.
Nach dem GAU ist vor dem GAU
Nach jedem Schadensereignis, im Finanzmarkt wie bei atomarer Stromerzeugung, gilt ja der schöne Satz: Vorher war es unvorhersehbar, zumindest vernachlässigbar unwahrscheinlich, nachher hat man gelernt und es wird sich deshalb nicht mehr wiederholen. Beides ist natürlich Mumpitz. Wenn das Betreiben von AKW nicht eine hochpolitische, zudem äusserst profitable Angelegenheit wäre, könnte man die ganze Debatte über die Zukunft des Atomstroms mit einem weiteren einfachen, aber zutreffenden Satz beenden: Würde die Risikoprämie angesichts des Super-GAU in Japan korrekt eingepreist und nicht einfach, wie auch bei der Finanzkrise, auf die Allgemeinheit überwälzt, würde Atomstrom dermassen teuer, dass sich alle weitere Diskussionen erübrigen. Es wird interessant sein zu beobachten, ob sich in dieser Frage die Atomlobby oder das Einmaleins durchsetzen.