Wladimir Putin ist also am Sonntag laut offiziellen Moskauer Zahlen von 76 Prozent der Wählenden zum vierten Mal zum russischen Präsidenten gewählt worden. Die Wahlbeteiligung belief sich auf 67 Prozent. Wie zuverlässig diese Zahlen sind, darüber lässt sich lange diskutieren. Das ändert aber nichts an der Tatsache, die schon vor der Wahl bekannt war: Die Mehrheit der russischen Bevölkerung hat am vierten Jahrestag der Krim-Annexion dafür gestimmt, dass der bisherige Staatschef für weitere sechs Jahre am Steuer bleibt.
Russische Opfer- und Einkreisungsmythen
Mit dieser Kontinuität an der Kremlspitze spricht vieles dafür, dass das flächenmässig grösste Land der Welt politisch auf einem ähnlichen Kurs bleiben wird, den es vor allem seit Putins dritter Wiederwahl zum Präsidenten im Jahre 2012 eingeschlagen hat. In gewissem Kontrast zu seinen ersten Amtsjahren und offenbar als Folge überraschender Massenproteste in Moskau und St. Petersburger hatte das Putin-Regime die innenpolitischen Kontroll- und Repressionsschrauben schärfer angezogen. Gleichzeitig wurde der nationalistische Trommelwirbel aufwendig intensiviert.
Mit dieser vor allem vom Fernsehen flächendeckend verbreiteten Propaganda-Berieselung wird dem Volk suggeriert, Mütterchen Russland werde vom überheblichen Westen ständig erniedrigt und beleidigt. Gleichzeitig sei es das unbezweifelbare Ziel der von Amerika dirigierten Nato und der in ihrem Schlepptau schwimmenden EU, die Festung Russland immer dichter einzukreisen und wenn möglich unter totale Kontrolle zu bringen. Solche Mythen, die auch im Westen in einigen Kreisen mit variierenden Akzenten kolportiert werden, dienten Putin zur ideologischen Unterfütterung der Krim-Annexion und zur Beteiligung am Separatisten-Krieg in der Ostukraine. Seit dem von den russischen Medien professionell orchestrierten Husarenritt auf die Halbinsel Krim vor vier Jahren bewegt sich Putins Popularitätskurve konstant auf einsamen Höhen.
Eine fünfte Amtszeit möglich?
Der heute 65-jährige Putin wird deshalb aller Voraussicht nach bis 2024 fest im Sattel bleiben. Und wenn nicht vieles täuscht, wird die für seine persönlichen Machtinteressen – und diejenigen der von ihm abhängigen, aber unter sich rivalisierenden Sekundanten – durchaus erfolgreiche Politik nationalistischer Macht- und Einigkeitsbeschwörungen die zentrale Moskauer Leitlinie bleiben.
Aber wie wird es nach 2024 weitergehen? Putin wird nach Ablauf seiner vierten Amtszeit als Präsident 71 Jahre alt sein. Er kann dann nicht für eine fünfte Amtszeit gewählt werden, weil nach der jetzigen russischen Verfassung nur zwei Amtszeiten hintereinander erlaubt sind. Sollte er dann immer noch nachhaltige Lust zum Weiterregieren verspüren, sind im Prinzip zwei Möglichkeiten denkbar, ihm diese Türe zu öffnen.
Erstens: Putin setzt einen Alibi-Nachfolger ein, der vier Jahre den Platzhalter spielt und übernimmt dann 2030 nochmals das Szepter. Diese Variante wurde 2008 nach Ablauf von Putins zweiter Amtszeit durchgespielt. Der Platzhalter war damals der heutige Ministerpräsident Dmitri Medwedew.
Zweitens: Die Verfassung wird geändert und für eine fünfte Amtszeit ohne Warteperiode umgeschrieben. Unter den gegenwärtigen Machtverhältnissen im russischen Parlament liesse sich ein derartiges Manöver wohl relativ leicht bewerkstelligen.
Erinnerung an Sacharows Zukunftsgedanken
Allerdings ist kaum voraussehbar, ob das heute ziemlich apathische russische Wahlvolk in sechs Jahren eine weitere Präsidentschaft Putins ohne breitere Opposition goutieren würde. Jedenfalls ist nicht undenkbar, dass dann Gegenkandidaten ins Rennen steigen könnten, die Putin ernsthafter bedrängen würden. Zu denken wäre da an den unerschrockenen Korruptions-Enthüller Alexei Nawalny, der diesmal unter fadenscheinigen Vorwänden als Bewerber ausgeschlossen wurde. Aber auch dem volksnah auftretenden Farmer-Unternehmer Pawel Grudinin, der als Kandidat der Kommunistischen Partei am Sonntag hinter Putin immerhin 13 Prozent der Stimmen gewann, wäre in sechs Jahren ein grösserer Erfolg zuzutrauen.
Doch bei solchen politischen Zukunftsüberlegungen sind grundsätzliche Vorbehalte immer geboten – gerade auch im Falle Russlands. 1968, also vor genau fünfzig Jahren, hatte der berühmte Physiker und spätere Friedensnobelpreisträger Andrei Sacharow im Westen ein Büchlein unter dem Titel «Wie ich mir die Zukunft vorstelle» veröffentlicht. Sacharow hatte damals für eine echte Liberalisierung des Sowjetsystems und eine zunehmende Konvergenz zwischen Sozialismus und Kapitalismus plädiert. Eine Auflösung des Sowjetstaates konnte er sich damals offenbar nicht vorstellen. Einige Elemente seiner Überlegungen erscheinen ansatzweise noch heute aktuell – etwa was die Koexistenz zwischen Sozialstaat und Kapitalismus betrifft.
Aber würde der Denker Sacharow heute nach Putins vierter Wahl zum russischen Präsidenten auf seine während der Breschnew-Periode zu Papier gebrachten Hoffnungen und Gedanken zurückblicken, so würde er sich der Einsicht gewiss nicht verschliessen: Erstens kommt es anders, zweitens als man denkt.